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Halle-Attentat Zwischen Trauma und Hoffnung

Die Stadt Halle will mit Gedenkminuten an die Opfer und Überlebenden des Halle-Attentats vor einem Jahr erinnern.

Von Matthias Fricke 09.10.2020, 01:01

Halle l Das Handy von Max Privorozki klingelt unaufhörlich. Sein Telefon verschwindet dabei fast vollständig in seiner Hand. Man könnte zu ihm mit seinen 1,90 Metern beinahe sagen, dass er ein Mann wie ein Bär ist. Er kann ganz offensichtlich zupacken. Als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Halle ist der in Kiew geborene Mann in diesen Zeiten besonders gefragt.

Erst in der vergangenen Woche beging die Gemeinde den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur und nun am Freitag wird dem ersten Jahrestag des Anschlags auf die Synagoge gedacht. Auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird dazu erwartet. Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland Josef Schuster und Oberbürgermeister Bernd Wiegand (parteilos) wollen unter anderem bei der Zentralen Gedenkfeier in der Ulrichskirche das Staatsoberhaupt empfangen.

Privorozki kommt der Trubel ganz recht. So muss er wenig an jenen 9. Oktober 2019 denken. Der Tag, als der 28-jährige Stephan B. aus Benndorf versuchte ein Blutbad in der Synagoge anzurichten. Auch damals, vor einem Jahr, hatte Privorozki das zuvor ausgeschaltete Telefon in der Hand und alarmierte die Polizei.

An jenem Jom Kippur, an dem technische Geräte eigentlich nicht benutzt werden dürften, telefonierte er fast dauerhaft. Es war eben ein absoluter Notfall, der später sogar weltweit für Entsetzen sorgte. Sein Wachmann und einige Gemeindemitglieder mussten auf dem Monitor der Überwachungsanlage mit ansehen, wie Stephan B. die Sprengsätze über die Mauer warf, die angezündeten Brandflaschen auf dem Boden aufschlugen und auch die 40-jährige Jana L. auf der Humboldtstraße vor der Synagoge erschoss.

Das Attentat hinterließ Spuren bei fast allen Überlebenden und Zeugen. Im Prozess wurde dies immer wieder deutlich. Viele klagen über Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Er sagt über sich: „Ich hatte Glück, weil ich einfach noch keine Zeit hatte, darüber nachzudenken.“

In der Gemeinde, die meisten der 530 oft älteren Mitglieder stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, ist der Anschlag kein großes Thema. In einer Mitgliederversammlung im Dezember sprach keiner über die Stunden der Angst, des Wartens und der Ungewissheit bis zur Fahrt mit dem Bus in das Krankenhaus. Privorozki: „Die Überlebenden aus unserer Gemeinde reden nicht darüber. Das ist etwas sehr Persönliches. Jeder verarbeitet das für sich.“ Und die anderen haben wiederum den Respekt, das gar nicht erst anzusprechen.

Für Privorozki hat der Anschlag eher etwas anderes gezeigt: „Die Mehrheit sind gute Menschen.“ Das habe die große Solidarität nach den Anschlägen gezeigt.

Etwa einen halben Kilometer südwestlich der Synagoge machen sich zwei Brüder in ihrem Kiez-Döner in der Ludwig-Wucherer-Straße ganz eigene Gedanken. Ismet Tekin steht in der Tür und blinzelt in die Herbst-Sonne. Der 36-jährige Gastronom sagt: „Halle war immer ein Teil meines Lebens. Ich habe mich hier immer wohl und sicher gefühlt. Bis zum Tag des Anschlags.“

An jenem Mittwoch vor einem Jahr hatte Ismet Tekin gerade für wenige Minuten den Laden verlassen, als der Attentäter Stephan B. sich den Döner-Imbiss als Ziel aussuchte. Im Laden blieb sein vier Jahre jüngerer Bruder Rifat zurück. Der hatte sich gerade noch rechtzeitig hinter den Tresen werfen können, als der Angreifer das Feuer eröffnete.

Immer wieder fielen Schüsse und der 32-Jährige durchlebte Minuten der Angst. Erst als er aus der anderen Ecke des Ladens die Geräusche hörte, rannte er um sein Leben nach draußen. Er rief dort sofort seinen Bruder an und sagte: „Auf den Laden ist ein Anschlag verübt worden.“

Ismet Tekin eilte zurück, lief in den Imbiss und sah jemanden hinter den Kühlschränken liegen. Es war der erschossene 20-jährige Kevin S. Er wurde vom Attentäter Stephan B. regelrecht hingerichtet, so wie Jana L. schon Minuten zuvor an der Synagoge. Polizisten haben den Gastronomen dann nach draußen gebracht, zu den anderen Überlebenden aus dem Kiosk.

Sein Bruder beschrieb später im Gericht seine vom Schock ausgelösten „Magenkrämpfe“ und beschrieb es als „unglaubliche Situation“. Tekin ergriff vor wenigen Wochen im Gerichtssaal auch die Chance seine Meinung zu sagen: „Dieser Mörder ist ein Feigling. Keiner hat das Recht den Angehörigen solch einen Schmerz zu bereiten.“

Besonders die Zeugenaussage des Vaters von Kevin habe ihn berührt. „Das war emotional sehr schwer. Bis dahin habe ich es ausgehalten. Immer war ich stark. Und ich wollte keine Schwäche zeigen“, erinnert er sich an den Prozess­tag. Er musste den Saal kurz verlassen.

Die Verbindung zu dem getöteten Malerlehrling aus Merseburg war schon vorher eine Besondere. Eine überdimensionale Tafel erinnert an das Todesopfer im Kiez-Döner. Sie zeigt das Fußballstadion des jungen HFC-Fans, ist bestückt mit T-Shirts samt Unterschriften, Plüschtieren und Gedenksteinen. Ein Schild richtet an beide Opfer die Worte: „Wo Liebe wächst, gedeiht Leben – wo Hass aufkommt, droht Untergang.“

40 Tage lang blieb der Kiez-Döner in der Zeit der Trauer nach dem Anschlag geschlossen. Der Eigentümer von damals hat ihnen nach dem Anschlag den Laden geschenkt, aus Dankbarkeit, weil sie damals als seine Angestellten ihr Leben riskiert hatten. Die Solidarität ist groß. Doch der Laden brummt nicht. Im Gegenteil.

Tekin kämpft um die wirtschaftliche Existenz. Vor allem die Corona-Pandemie hat ihm seit März zugesetzt. Er sagt: „Wir haben bis heute finanzielle Schwierigkeiten.“ Der Anschlag, die Sorgen um den Laden, all das habe sehr viel Kraft gekostet. Dennoch habe er sich nun doch für Halle entschieden. „Ich habe überlegt, egal, wo ich hingehe, es wird mitkommen. Ich kann mein Gehirn nicht hierlassen. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich das getan“, sagt er.

Beflügelt hat ihn eine Solidaritätsgruppe aus Halle, die 10 000 Flyer in der Umgebung des Kiez-Döners zu verteilen. Er sagt: „Seit zwei Wochen ist es fast wie früher. Jetzt haben wir auch ein neues Konzept, bei dem wir zukünftig einen Frühstückssalon planen.“ Das Geld einer Sammlung jüdischer Studenten will er für die nötigen Umbauten verwenden.

Etwa 15 Kilometer weiter östlich von der Synagoge und dem Kiez-Döner liegt Wieders­dorf, ein Ortsteil von Landsberg im Saalekreis. Bis dorthin hat es der Attentäter mit seinem von ihm selbst plattgeschossenen Reifen geschafft. Er wollte das Fahrzeug wechseln. Ein Jahr nach der Tat sehen sich die Bewohner des 70-Einwohner-Ortes im Schatten der Ereignisse von Halle.

„Obwohl hier von dem Täter zwei Menschen angeschossen und schwer verletzt wurden, wird dieser Tatort immer vergessen“, sagt Steffen Kurz. So wie ihn ärgert es auch Klaudia Wannags, die extra zum Prozess angereist war, um Antworten zu bekommen. Warum hat er sich ausgerechnet diesen Ort ausgesucht? Die Antwort ist profan. Purer Zufall, weil am Ortsrand mehrere potenzielle Fluchtautos standen.

Um eines von ihnen zu erpressen, schoss er auf ein Paar. Der 53-jährige Jens Z. und seine Lebensgefährtin Dagmar M. Sie wurden so schwer verletzt, dass beide noch immer nicht arbeitstauglich sind. Steffen Kurz: „Das Schlimme bei den beiden ist, dass sie weiter am und mit dem Tatort leben müssen.“ Erst vor einigen Wochen haben sie die Tür umgestaltet, dort, wo Stephan B. das erste Mal abdrückte. Ob von den Wiedersdorfern ein Opfer zur Zentralen Gedenkfeier erscheint, ist offen. Kurz: „Nach meinem Wissen wollten sie es sich noch überlegen.“

Erfahren sie mehr über die aktuelle Situation des Döner-Kiez-Besitzers Ismet Tekin im Videobeitrag von Videojournalistin Samantha Günther.