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Naturschutz in Sachsen-Anhalt In der Goitzsche-Wildnis wächst ein kleiner Urwald

Die gefluteten Tagebauslöcher sind ein Gewinn für Bitterfeld. Am Ufer des Goitzschesees gedeiht ein Wald ohne menschliche Eingriffe.

Von Steffen Honig 02.03.2023, 18:00
BUND-Projektleiter Ralf  Meyer an der Übersichtskrate der Goitzsche -Wildnis.
BUND-Projektleiter Ralf Meyer an der Übersichtskrate der Goitzsche -Wildnis. Foto: St. Honig

Bitterfeld - Stille. Am Rande der Bucht des Sees hocken Kormorane auf ihrem Baumstumpf-Quartier am Ufer. Dann fliegt er ein: der König des Reviers, ein Seeadler. Majestätisch gleitet der Greifvogel über das Wasser. Wir sind nicht etwa im Donau-Delta, sondern am Stadtrand von Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Mitten in der Goitzsche-Wildnis, einem 1300 ha großen Areal (das entspricht 1800 Fußballfeldern) am gefluteten Restloch des einstigen Braunkohletagebaus Goitzsche.

„Ja, der Seeadler“, schmunzelt Ralf Meyer, „der taucht bei unseren Runden gern auf. Er ist bei uns Mitglied, heißt es schon.“ Meyer, Projektleiter des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), betreut die Goitzsche-Wildnis zusammen mit seiner Mitarbeiterin Carol Höger.

Zu Beginn des Jahrtausends kaufte die Bundesstiftung der Naturschutzorganisation die Flächen am Südwestufer des früheren Restlochs Goitzschesee. Entstanden ist ein Naturschutzgebiet, in dem sich Flora und Flora frei entfalten können. Gesperrt für den Durchgangsverkehr, aber jederzeit offen für Ausflügler und Naturfreunde. Die Besucher können ein Ensemble von Seen, Feuchtgebieten, Waldflächen und Offenland-Gebieten auf sich wirken lassen.

Wettstreit der Baumarten

Bei der Baumwelt wird es da spannend, wie sich über die nächsten Jahrzehnte die angestammten Gewächse gegen die nichtheimischen Arten behaupten können. Birken und Kiefern von hier also gegen nordamerikanische Robinien und Schwarzeichen.

Das wollen die BUND-Leute dem Selbstlauf überlassen. „Prozessnaturschutz“ heißt das. Doch eben nicht mit strenger Abschottung. „Wir wollen die Natur schützen, um sie erlebbar zu machen“, erklärt Meyer. Das soll auch die Akzeptanz bei der Bevölkerung sichern, für die ein neues Naherholungsgebiet geschaffen werde. Mit einiger Skepsis würden indes Land- und Forstwirte auf das Projekt blicken, die mit Wald eher Geld verdienen wollten, berichtet der Projektleiter.

Der BUND hat in der Nachbarschaft einen weiteren Öko-Partner: die Bundesstiftung Umwelt. Diese verfolge auf ihren 1000 ha Fläche allerdings eine andere Baum-Strategie. Wie Meyer berichtet, würden in dem Gelände importierte Arten dezimiert, um heimische Bäume zu kultivieren.

Das Ziel der Bundesregierung sei, so Meyer, zwei Prozent der deutschen Landfläche für Wildnisgebiete zu nutzen. Das bekannteste Beispiel gibt es im Bayerischen Wald, wo 1970 der erste Nationalpark Deutschlands gegründet wurde. Über die Jahrzehnte hat sich frei von menschlichem Einwirken ein wahrer Urwald entwickelt.

Ganz so ehrgeizig sind sie an der Goitzsche nicht. Der frühere Biologie-Lehrer Meyer sagt: „Wir beobachten und sehen zu, was entsteht – ohne einen strengen wissenschaftlichen Anspruch.“ Mitarbeiterin Carol Höger ergänzt: „Unser Schwerpunkt ist die Öffentlichkeitsarbeit.“ Jährlich bis zu 80 Führungen für unterschiedliche Kreise von Interessenten bieten die Naturschützer an.

Die Klimakrise mit ihren drei vergangenen Trockenjahren hat auch der Goitzsche-Wildnis zugesetzt. Doch meint Meyer: „Wir konnten auch sehen, dass sich die Natur selbst helfen kann.“ Ein großes Baumsterben habe es nicht gegeben. Das macht zumindest Hoffnung.

Wie wenig sich natürliche Entwicklungen an menschliche Planungen halten, haben die Bitterfelder bei der Flutung der Tagebau-Restlöcher erlebt. Eigentlich sollte das langsam geschehen. Mit dem Hochwasser 2002 übernahmen das die Mulde-Fluten, die nach einem Dammbruch beinahe eine Überschwemmungskatastrophe verursachten.

In der Goitzsche-Wildnis gibt es jedoch alte Straßen aus der Bergbauzeit und neuangelegte Wege. Dass sie oft asphaltiert sind, nehmen die Umweltschützer in Kauf, auch wenn ihnen die Versiegelung der Landschaft ein Dorn im Auge ist. Weil das Wegesystem für Jogger, Spaziergänger oder Radler weniger dazu verleitet, durch den wilden Wald zu streifen.

Von Bibern bis zu Wildschweinen

Das schützt auch vor unangenehmen Überraschungen: Nicht ungefährliche Wildschweine fühlen sich hier sauwohl. Dazu kommt ein großer Reichtum an Vögeln und Amphibien. Biber bauen ihre Burgen und Fischotter gehen auf die Jagd. Den Tieren kommt die Nährstoffarmut in Wald und Wasser zugute. Es gibt keine Nitratbelastung im Boden – dass Wasser ist viel klarer als in Seen, die in Ackerbaugebieten liegen.

Gibt es auch Wölfe? Jawohl, es seien schon welche gesehen worden, berichten Höger und Meyer. Es wären Einzeltiere gewesen. Es könnten Späher des sächsischen „Delitzscher Rudels“ gewesen sein.

Der Fischadlerhorst am

Goitzsche-See ist zumindest bezugsfertig. Noch sind mögliche Bewohner nicht eingeflogen. Wenn es so weit ist, können Adler-Freunde jede Bewegung der Vögel verfolgen: Der Youtube-Kanal des BUND liefert per installierter Kamera die brandheißen Bilder.

Die Seenlandschaft bei Bitterfeld.
Die Seenlandschaft bei Bitterfeld.
Grafik: prePress