Familie Jede dritte Geburt per Kaiserschnitt
Ältere Schwangere, schwerere Babys, Wunschtermin für die Geburt - die Zahl der Kaiserschnitte steigt. Krankenkassen warnen vor Risiken.
Magdeburg l In Sachsen-Anhalt kommt fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes waren es im vergangenen Jahr 4886 und damit 29,6 Prozent aller Geburten in den Krankenhäusern des Landes. Seit 1994 (14,2 Prozent) hat sich dieser Anteil mehr als verdoppelt. Bundesweit waren es 2014 insgesamt 31,8 Prozent. Im Saarland ist der Anteil der Operationen (40,2) am höchsten, in Sachsen (24,2) am niedrigsten.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass nur bei zehn bis 15 Prozent aller Geburten ein Kaiserschnitt medizinisch notwendig ist. Krankenkassen und Frauenärzte sehen die Entwicklung der vergangenen 20 Jahre kritisch. „Wie jeder chirurgische Eingriff birgt auch ein Kaiserschnitt kurz- und langfristige Risiken“ sagt Axel Wiedermann, Landesgeschäftsführer der Barmer GEK.
Nicht selten hat ein Baby nach operativer Entbindung Anpassungsstörungen wie Atem- oder Stillprobleme. Kommt es natürlich zur Welt, stärke das die Bindung zwischen Mutter und Kind, betont die AOK Sachsen-Anhalt. Auch der Großteil der Ärzte sieht das so. „Eine Schwangerschaft ist keine Erkrankung. Die Spontangeburt ist das Natürlichste auf der Welt“, sagt Dr. Michael Böhme, Chefarzt der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am St. Marienstift in Magdeburg. Das Krankenhaus gehört neben dem Harzklinikum Quedlinburg (19 Prozent) zu den Einrichtungen mit der geringsten Kaiserschnittquote im Land.
Die Gründe für den kontinuierlichen Anstieg sind vielfältig. Weil Frauen später Mütter werden als früher, steigt das Geburtsrisiko. Doch auch erfolgreichere Kinderwunschbehandlungen, die steigende Zahl von Mehrlingsgeburten, ein durchschnittlich höheres Geburtsgewicht der Kinder sowie die Angst der Kliniken vor Klagen spielen eine Rolle.
Letzteres kommt vermehrt vor, wenn bei der Geburt etwas schief geht. „Manche Ärzte haben Angst, verklagt zu werden“, sagt Professor Serban-Dan Costa, Direktor der Universitätsfrauenklinik Magdeburg. Gleichzeitig wüssten die Mediziner, dass es kaum Klagen gebe, wenn ein Kaiserschnitt als Notfallmaßnahme durchgeführt werde.
Selten ist auch der Wunsch der Mutter ausschlaggebend. Costa schätzt, dass inzwischen jeder zwanzigste Kaiserschnitt an der Universitätsfrauenklinik ein „Wunschkaiserschnitt“, also ein Eingriff ohne medizinische Begründung, ist.
Während viele Kliniken auf Anfrage der Volksstimme bestreiten, dass Kaiserschnitte finanziell lukrativer sind, bestätigt dies Costa. Die Krankenkassen zahlen dafür mehrere Hundert Euro mehr als für vaginale Geburten. Doch nur in ganz wenigen Ausnahmefällen würden sich Ärzte dem von Geschäftsführungen ausgeübten Druck beugen, im Zweifel zum Kaiserschnitt zu tendieren. Das Berufsethos der Geburtshelfer ziele darauf ab, möglichst vielen Frauen zu einer Geburt auf normalem Wege zu verhelfen, stellt Costa klar.
Der Chefarzt der Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe am Harzklinikum Quedlinburg, Dr. Gunter Schultes, sieht noch eine andere Ursache dafür, warum die Zahl der Kaiserschnitte steigt. Vielen Kliniken würden inzwischen Wissen und Erfahrung mit komplizierten Geburten fehlen, sagt er. „Das ist in der Ausbildung irgendwann verloren gegangen.“
Ein Beispiel: Die Beckenendlage. Etwa vier Prozent der Babys sitzen am Ende der Schwangerschaft im Mutterbauch und drehen sich nicht mit dem Kopf nach unten in Richtung Geburtskanal. Zu DDR-Zeiten waren Steißgeburten nahezu alltägliche Praxis. Inzwischen sind diese in vielen Krankenhäusern fast vollständig aus den Kreißsälen verschwunden.
Aus Sorge vor möglichen Schadensersatzansprüchen – falls etwas schief geht – würden diese Kliniken häufig den scheinbar sichereren Weg des Kaiserschnitts wählen, sagt Schultes. „Aber auch beim Kaiserschnitt bleiben Risiken bestehen. Wenn es geht, ist einer natürlichen Geburt nichts vorzuziehen“, so der Chefarzt. Sein Team ermutigt die Frauen deshalb, es auf dem konservativen Weg zu versuchen.
Im Harz setzt man auf die Spezialisierung des Personals an den Standorten: Während in Quedlinburg die „einfacheren“ Geburtsfälle (Kaiserschnittrate nur 19 Prozent) landen, werden Risikoschwangerschaften vor allem in Wernigerode (30) begleitet. Auf diese Weise führen Ärzte und Hebammen regelmäßig Spontangeburten in Beckenendlage durch.
„Unikliniken und Schwerpunktkrankenhäuser betreuen und entbinden naturgemäß eine höhere Anzahl von Risikoschwangerschaften, bei denen häufiger ein Kaiserschnitt angewandt wird“, sagt Jens Hennicke, Leiter der Landesvertretung der Techniker Krankenkasse. Er warnt davor, die Kaiserschnittraten einzelner Kliniken miteinander zu vergleichen. Die gehen in Sachsen-Anhalt tatsächlich weit auseinander: Von 19 Prozent wie in Quedlinburg bis zu knapp 40 Prozent beispielsweise in Naumburg.
Interessant: Eine Untersuchung der Krankenkasse hat ergeben, dass es besonders bei Frauen unter 30 Jahren prozentual mehr Kaiserschnitte gibt. „Das ist umso bedenklicher, da nach einer Kaiserschnitt-Entbindung jüngere Geschwister oft auf dem gleichen Weg zur Welt kommen“, sagt Hennicke.
Die Geburtshelfer bestätigen diesen Trend. Ihre Beobachtung: Schwangere seien häufig vorgeprägt durch Erzählungen von Bekannten, Freunden oder dem Rat von Frauenärzten. Aber auch die Berichte über Prominente, die in den Medien von „schmerzfreien“ Entbindungen schwärmen, würden das Denken der jungen Frauen beeinflussen, sagt Schultes. Sein Kollege am Krankenhaus St. Marienstift in Magdeburg sieht das ähnlich. Chefarzt Dr. Michael Böhme sagt: „Wenn sich Victoria Beckham hinstellt und erzählt, wie unkompliziert ihre Geburt mit Kaiserschnitt war, macht das natürlich was mit den Frauen. Aber eine Spontangeburt ist und bleibt nun mal das Beste.“