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Jugendprojekt Syrerin erzählt vom Leid der Kinder

In Berlin erinnern 500 Jugendliche aus 28 Ländern an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren - auch eine Syrerin aus Magdeburg.

Von Alexander Walter 16.11.2018, 00:01

Magdeburg l Der junge Richard Wilke ist einer der ersten Sachsen-Anhalter, die 1914 ihr Leben an der Westfront verlieren. Im Gefecht mit den Franzosen wird er am 25. August bei Nancy in Lothringen schwer verwundet. Dabei scheint es zunächst, als sei der 28-Jährige noch einmal davongekommen. Im Lazarett beginnen die Wunden bereits zu heilen. Dann aber bekommt der junge Mann plötzlich heftige Schmerzen. Am 5. September stirbt Wilke qualvoll an Wundstarrkrampf. Der Vater hat das Schicksal seines Sohnes damals festgehalten – niedergeschrieben in der Chronik seines Kirchspiels. Daheim im Altmarkdorf Dähre bei Salzwedel.

Das Schicksal von Richard Wilke sollten bald Unzählige teilen. Statt des sicher geglaubten Sieges bis Weihnachten zogen Europas Soldaten in vier Jahre endloser Materialschlachten. Allein in den Stahlgewittern der Westfront verloren bis 1918 Millionen junger Männer ihr Leben. Genau 100 Jahre später erinnern Jugendliche in diesen Tagen in Berlin mit einem europaweit einmaligen Workshop an das Ende des großen Schlachtens.

Beim Projekt „Youth for Peace“ (Jugend für den Frieden) geht es neben dem Gedenken vor allem um den Blick nach vorn, sagt Johanna Haag vom ausrichtenden Deutsch-Französischen Jugendwerk (DFJW).

Insgesamt 500 junge Leute aus 48 Ländern wollen dabei Ideen erarbeiten, wie Europa den Frieden sichern kann, damit sich Katastrophen wie die Weltkriege nie wiederholen.

Zu den Teilnehmern in Berlin gehört auch Nour Alkhiami aus Syrien, die inzwischen in Magdeburg lebt. Heute ist sie acht Jahre jünger als der Soldat Richard Wilke damals 1914. Und doch hat auch Alkhiami das Grauen des Krieges schon mit eigenen Augen gesehen. In ihrer Heimatstadt Damaskus kümmerte sie sich um traumatisierte Kinder aus den Provinzen des Bürgerkriegslandes. Die junge Frau sah halbverhungerte Waisen in Lumpen, die auf keinerlei Anweisung hörten, die scheinbar jede Fähigkeit zu menschlicher Bindung eingebüßt hatten.

„Die Arbeit mit den Kindern habe ich trotzdem geliebt“, sagt die 20-Jährige mit den hellbraunen Augen. Mehr noch: „Sie zählte zu den glücklichsten Erfahrungen meines Lebens.“

Bleiben konnte Alkhiami trotzdem nicht. „Wir hatten Angst“, sagt sie. Arbeit habe es in Syrien nicht mehr gegeben. Als ihr Freund, ein Arzt, dann auch noch zur Armee eingezogen werden sollte, beschlossen beide, nach Deutschland zu fliehen. Der Wille zu helfen, ist geblieben. In Magdeburg widmet sich Al Khiami nicht nur dem Fernstudium für Wirtschaft zu Hause. Beim Malteser-Hilfsdienst gibt sie Schülern Nachhilfe in Mathematik, und sie engagiert sich in der Freiwilligen-Agentur.

Als sie bei Facebook von „Youth for Peace“ las, wollte sie unbedingt dabei sein. Sie wollte das vor allem wegen des Austauschs der Kulturen, sagt die junge Frau. Das Problem: Die Leute nehmen die Welt immer nur aus ihrer Perspektive wahr, erklärt sie. Wenn etwa die US-Armee in den Irak-Kriegen Zivilisten tötete, sei das für viele Amerikaner ein nötiges Übel gewesen. Wenn Leute aus verschiedenen Ländern aber zusammenkommen und miteinander sprechen, verändere sich die Wahrnehmung. Vorurteile und Gleichgültigkeit weichen dann der Anteilnahme. Vor allem will die Syrerin aber auch die schrecklichen Wirkungen des Krieges transportieren. „Im Krieg gibt es kein Leben, für niemanden“, sagt Alkhiami. Das Jugendlichen aus anderen Ländern klarzumachen, sei ihr wichtig.

Die Ergebnisse ihres Austauschs wollen die Syrerin und die anderen 500 Jugendlichen am Sonntag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron übergeben. Alkhiami ist nicht so naiv zu glauben, ein einziges Projekt könne die Welt verändern. Aber es kann einen Beitrag leisten, dass Menschen sich in andere hineinfühlen, sagt sie.

Wer weiß, hätten Franzosen und Deutsche schon vor 1914 mehr miteinander gesprochen, vielleicht wären sie gar nicht in die Züge an die Fronten gestiegen. Mit der Erfahrung des Kriegs in Syrien hat Nour Alkhiami jedenfalls eine Entscheidung getroffen: „Ich will in meinem Leben nicht nur Geld verdienen, ich will ihm Bedeutung geben.“ Diese Erkenntnis will sie mit möglichst vielen teilen, bevor sie vielleicht irgendwann in die Heimat zurückkehren kann.