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Kindermörder Der Mann hinter dem Kreuzworträtsel-Fall

Wie Kripo-Major Wolfgang Lorenz mit seiner verrückten Idee den spektakulärsten Fall der DDR-Kriminalgeschichte löste.

Von Bernd Kaufholz 31.10.2019, 00:01

Halle l Selbst 38 Jahre nach dem „Kreuzworträtselfall“ ist Kriminaloberrat a. D. Wolfgang Lorenz noch anzumerken, dass er stolz auf den größten Ermittlungserfolg seiner Polizeikarriere ist. Doch der 71-Jährige ist bescheiden: „Es war Teamarbeit. Aber von mir, als Leiter des Ermittlungsdezernats der Bezirkspolizeibehörde in Halle verlangte man natürlich Ideen, die zur Aufklärung des Falls führen.“ Und diese Idee schaffte es sogar bis in die kriminalistische Fachliteratur und in einen „Polizeiruf 110“.

Wie er 1981 von dem Fall, der vorerst ein Vermisstenfall war, erfuhr, daran kann sich der Mann, der heute im Landkreis Mansfeld-Südharz lebt, noch genau erinnern: „Der Leiter des Volkspolizeikreisamts in Halle, Major Hempel, rief mich am Nachmittag des 16. Januar an: ,Du, Wolfgang, seit gestern fehlt in Neustadt ein Kind.‘“ Das sei die Initialzündung gewesen.Wie üblich bei brisanten Fällen übernahmen die Bezirksermittler die Untersuchung.

„Unsere Einsatzzentrale in Halle-Neustadt war die Feuerwache, in denen sich auch die Polizeirevierstelle befand und meine Abteilung in der 4. Etage Büros hatte.“ Der Zufall habe es gewollt, dass die Ermittler von dort aus auf den „Krummen Hund“ – einen langgestreckten Plattenblock mit Rundungen – schauten. Dort wohnte der vermisste sieben Jahre alte Lars.

„Wir waren mehr als 50 Leute, die nach Lars suchten.“ Er habe von Anfang an das Gefühl gehabt, dass hinter der Sache mehr steckt, als ein Junge, der von zu Hause weggelaufen war. „Ich bin bei Vermisstensachen immer vom Schlimmsten ausgegangen und habe auch die Ermittlungen dementsprechend angelegt“, charakterisiert der Ex-Polizist seine Vorgehensweise.

Die Ermittlungen seien Polizeiroutine gewesen: „Wir wussten, dass das Kind zuletzt in der Gaststätte ,Treff‘, unweit von seinem Neubaublock entfernt, gesehen worden war. Wir haben Menschen befragt, die sich am 15. Januar in der Umgebung des Lokals, das gleichzeitig als Kino diente, aufgehalten haben.“

Doch irgendwann waren die Möglichkeiten ausgeschöpft. „Wir kamen nicht weiter. Niemand hatte Lars gesehen.“

Knapp zwei Wochen später wurde die Leiche des Kindes in einem Koffer gefunden. Ausgepolstert mit Zeitungen und Zeitschriften. In einigen waren Kreuzworträtsel gelöst.

„Das war mein Ansatzpunkt, den die meisten für verrückt hielten, weil er mit sehr viel Aufwand verbunden war.“ Der Kripo-Major setzte darauf, dass die Schrift die Ermittlungen erfolgreich weiterbringen könnte, zumal einige Buchstaben charakteristische Merkmale aufwiesen. „Wir gingen davon aus, dass derjenige, der die Rätsel gelöst hatte, entweder selbst der Täter war oder uns zu ihm führen könnte“, so Lorenz.

Das Klinkenputzen begann. Die Ermittler gingen in Halle-Neustadt von Tür zu Tür und ließen die Mieter einen Text schreiben, in dem das charakteristische A und E vorkam.

„Das brachte uns viel Gegenwind ein. Sogenannte gute Genossen beschwerten sich zu Hauf, dass sie durch die Schriftproben in einen Topf mit einem Kindermörder geworfen würden. Ich musste mich mehrfach bei der SED-Bezirksleitung rechtfertigen und mir wurde nahegelegt, mit dem ,Unsinn‘ aufzuhören.“ Selbst der SED-Bezirkschef lud mehrfach zum Rapport. Je länger die Suche dauerte, desto lauter wurde die Frage: Wie lange noch? „Denn unsere Gruppe war verstärkt worden durch fähige Kollegen aus Volkspolizeikreisämtern. Und natürlich wurden die auch dort gebraucht.“

Der Druck wurde immer größer und langsam begannen auch meine Vorgesetzten einzuknicken. Zumal selbst das Ministerium des Innern in Berlin ein aufmerksames Auge auf die Provinz hatte. „Ich habe nie an dieser unkonventionellen Methode gezweifelt, die es in diesem Umfang in der Kriminalgeschichte noch nicht gegeben hatte. Und ich hatte ja auch gute Argumente. Wir hatten alle Männer überprüft, die wegen eines Sexualdelikts an Jungen vorbestraft waren, und wir hatten keinen Tatort.“

Die Alternative sei gewesen, den Fall einzustellen. Doch diese Entscheidung habe dann doch niemand treffen wollen.

Monate vergehen. Dann der Erfolg. Der Schriftexperte ist sich sicher: Wir haben den Schreiber. „Als er mir das in meinem Dienstzimmer mitteilte, merkte ich erst, unter welcher Anspannung ich in den vielen Wochen der Ungewissheit gestanden habe. Ich habe meinen Stellvertreter herangeholt und entschieden: Das Ergebnis bleibt erstmal in diesem Zimmer, bis wir Sicherheit haben.“

Nachdem Lorenz seinen Amtskollegen in Rostock auf dem kleinen Dienstweg informiert hatte, schickte er seinen Vize an die Ostsee zu der Frau aus Halle, die dort arbeitete. Sie ist zwar nicht die Mörderin, aber durch sie geht der Kripo der Täter ins Netz.

„Wenn ich mir vorstelle, dass ich dem Druck damals nachgegeben hätte ... Gar nicht auszudenken. Denn als wir Matthias S. unter die Lupe nahmen, wurde uns schnell klar, dass er eine tickende Zeitbombe ist. Dass er weitergemacht hätte, wäre nur eine Frage der Zeit gewesen.“

Und wie es oft im Leben so ist: Der Erfolg hat viele Väter, der Misserfolg nur einen. Die spektakuläre Aufklärung des „Kreuzworträtselfalls“ machte republikweit die Runde und an die teils scharfe Kritik will sich niemand mehr erinnern.

Lorenz, der eigentlich Eisenbahner werden wollte, weil das Familientradition war, dann aber bei der Transportpolizei landete, weil er damit wenigstens einen eisenbahnnahen Beruf hatte und später zur Kriminalpolizei ging, schlägt viele aus seiner Einsatzgruppe für Auszeichnungen vor. Er geht leer aus. Warum, weiß er bis heute nicht. Aber darauf sei es ihm nicht angekommen. „Für mich war es wichtig, dass sich der Aufwand gelohnt hat.“

1988 wird der Oberstleutnant der Polizei als Berater für den „Polizeiruf 110“ herangezogen, die der Idee des Ermittlers ein bleibendes Denkmal setzte – mehr als jede interne Polizeiauszeichnung. „Ich habe das Drehbuch zu lesen bekommen und bis auf einige Kleinigkeiten konnte ich damit leben. Der Drehstab und ich haben uns dann noch einmal zusammengesetzt und haben nachgebessert.“

Heute schaut sich der Kriminalist, der einst Chef von 120 Mitarbeitern war, keine Krimis mehr an. „Entweder, ich ärgere mich, wie Polizeiarbeit dargestellt wird oder ich rede laufend dazwischen, weil ich alles besser weiß, was meine Mitgucker zur Weißglut bringt.“