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Kolumne Schreien hilft nicht

Unser Gastautor aus London über Sprachprobleme und respektvollen Umgang.

Von Paul Kilbey 04.08.2018, 16:34

„NEUNUNDVIERZIG!“ – „FÜNFUNDZWANZIG!“ – „DREIUNDSIEBZIG!“

Damit hatte ich eigentlich nicht gerechnet, als ich im Supermarkt an der Kasse stand. Handelte es sich hier um eine merkwürdige deutsche Tradition, die ich noch nicht kannte? Oder hatte die Kassiererin sich spontan dazu entschlossen Bingo zu spielen?

Mit anderen Kunden stand ich im Supermarkt an der Warteschlange. Viele schauten zwar neugierig zu der Kassiererin, doch niemand hielt Bingo-Karten in der Hand. Auch ich lugte nach vorne. Die wütende Kassiererin sprach mit einem Kunden, der vermutlich neu hier war. Er hatte nicht genug Geld dabei, um alles zu bezahlen. Also überlegte er, auf welches Lebensmittel er verzichten kann. Doch jedes Mal, wenn er einen Vorschlag machte, verkündete die Kassiererin lauthals den Cent-Betrag, der noch fehlte. Und das in einer Lautstärke, die man vermutlich in jeder Ecke des Supermarktes verstehen konnte.

Dabei wird Kopfrechnen bekanntlich nicht einfacher, wenn man angeschrien wird. Und wahrscheinlich war das auch einer der Gründe dafür, dass der Kunde Schwierigkeiten dabei hatte, den Betrag auf den Cent genau zu berechnen. Mit der Zeit wurde die Kassiererin immer wütender – und der Kunde immer nervöser. Hätte sie auf seinen Vorschlag eingehen können, alle seine Münzen anzunehmen und ihm das Wechselgeld zu geben? Sicherlich. Aber warum die Mühe machen, wenn der Kunde so frech ist, auch nur ein Grundnahrungsmittel mehr aufs Band zu legen, als er sich leisten kann?

Hier ein paar Beobachtungen, die auch ich selbst als Zugezogener gemacht habe. Erstens versteht man die deutsche Sprache nicht plötzlich besser, nur weil sie geschrien wird. Das ist übrigens etwas, das auch die Briten gerne machen. Viele glauben, dass man sie überall in Europa perfekt versteht, wenn sie einfach etwas langsamer und viel lauter sprechen. Klar sollten ich und andere Menschen, die hier herziehen, so schnell wie möglich die Sprache lernen. Aber das ist bekanntlich anfangs schwer und braucht seine Zeit. Und bis man ein bestimmtes Niveau in einer Sprache erreicht hat, ist alles – ja, auch banal erscheinende Dinge wie ein Einkauf – deutlich schwieriger.

Der zweite Punkt: Zahlen sind in Deutschland einfach unlogisch. Man sagt die kleinere Ziffer vor der größeren. Siebenundzwanzig, statt Zwanzig und Sieben. Gibt es hierfür eine logische Erklärung? Das bezweifele ich. Vor allem, weil ihr – zum Glück – die Zahl in der richtigen Reihenfolge aufschreibt: 27. Ein Thema, das in Deutschkursen einen viel höheren Stellenwert haben sollte. Denn im Stress sind hier Zahlen eines der ersten Dinge, die man vertauscht. Das weiß auch ich aus Erfahrung.

Es gibt wohl niemanden auf diesem Planeten, der noch nie in einer stressigen Situation war. Und wer würde sich nicht dafür schämen, in einem vollen Supermarkt nicht genug Geld zu haben, um die nötigsten Dinge zu kaufen. Und wäre es dann nicht besser, dieser Person so gut es geht zu helfen, statt sie öffentlich bloßzustellen?

Ich lebe seit einem Jahr hier und mich hat noch nie jemand so respektlos behandelt. Und das, obwohl mein Deutsch noch immer schlecht ist und ich des Öfteren Probleme habe, mich zu artikulieren. Ich bezweifele, dass ich den Grund hierfür aufschreiben muss. Es hängt damit zusammen, woher ich komme – oder vielmehr, woher ich nicht komme. Aber sollte ich dann nicht genauso behandelt werden wie der Kunde an der Kasse? Oder viel besser: Sollten wir vielleicht beide nicht so behandelt werden?

Übrigens, habe ich noch immer meine Schwierigkeiten, die Ein- und Zwei-Cent-Stücke auseinanderzuhalten. Doch das ist eindeutig die Schuld der EU – wie wir Briten nur zu gut wissen, ist das ein anderes Thema. Euer Paul

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