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Kriegsverbrechen Der Holocaust von Gardelegen

Ein Besucherzentrum soll die Geschehnisse des Massakers in der Feldscheune Isenschnibbe für ein breiteres Publikum ganz neu aufbereiten.

Von Alexander Walter 14.04.2018, 01:01

Gardelegen l Es sind die Vormittagsstunden des 15. April 1945, als die 102. US-Infanteriedivision die Feldscheune Isenschnibbe bei Gardelegen erreicht. Drei Jahre kämpft der Großverband da schon zusammen. Von den Stränden des Ärmelkanals bei Cherbourg in Frankreich ist er bis in die Altmark marschiert. Tod und Verstümmelung, befreite Konzentrationslager – all das haben die US-Soldaten beim Vorstoß gesehen. Der Anblick aber, der sich ihnen nahe der kleinen Hansestadt bietet, stellt alles in den Schatten.

Im Angesicht der nahenden Front haben SS, Wehrmacht, Luftwaffe und Volkssturmeinheiten hier zwei Tage zuvor mehr als 1000 KZ-Häftlinge nach tagelangen Todesmärschen in eine Scheune gepfercht und diese anschließend in Brand gesetzt. Die Häftlinge stammen mehrheitlich aus den KZ-Außenlagern Hannover-Stöcken und Mittelbau-Dora (Harz). Die ausgezehrten Menschen sind oft Kriegsgefangene vor allem aus Frankreich, Polen und der Sowjetunion – unter ihnen viele Juden.

Die Flucht ist aussichtslos: Mit Maschinengewehrsalven und Panzerfäusten unterbinden die Täter jeden verzweifelten Versuch. Das Massaker dauert bis tief in die Nacht. Nur die wenigsten Häftlinge überleben, ganze 300 von 1016 Toten können später identifiziert werden.

Vom Ausmaß des Verbrechens schockiert, dokumentieren die Amerikaner die Ereignisse penibel. Einen Monat später, am 7. Mai, veröffentlicht das populäre Life-Magazine die Bilder in den USA. Das Massaker in Isenschnibbe – es geht als „Holocaust (altgriechisch: vollständig verbrannt) von Gardelegen“ in die US-amerikanische Geschichte ein. Auch bei Opferverbänden in Frankreich und Polen ist es bis heute unvergessen.

Die Befreier konfrontieren die Gardelegener Bevölkerung in den Folgetagen schonungslos mit den Taten. Alle Männer über 16 Jahre müssen die Opfer bergen und auf einem Friedhof ehrenvoll bestatten. Bei einer Ansprache am frisch angelegten Gräberfeld halten die US-Truppen den Deutschen den Spiegel vor: „Sie haben die Achtung der zivilisierten Welt verloren!“, ruft Oberst George P. Lynch den versammelten Einwohnern entgegen. Die Amerikaner belassen es nicht dabei. Die Verantwortung für die Stätte schreiben sie der Stadt für alle Zeiten ins Stammbuch: „Die Einwohner haben die Verpflichtung übernommen, diese Gräber ebenso frisch zu bewahren, wie das Gedächtnis der Unglücklichen in den Herzen aller freiheitsliebenden Menschen bewahrt bleiben wird“, schreiben sie damals auf eine Tafel.

73 Jahre sind seit jenen Tagen vergangen. Die Original-Tafel ist verschollen, auf die Amerikaner folgten Rote Armee und DDR. Und doch fühlt sich die Kleinstadt dem Vermächtnis ihrer Befreier bis heute verpflichtet. Zum Jahrestag fand auch diesmal ein Diskussionsabend mit letzten Augenzeugen statt. Im Rathaus eröffnet am Montag eine Wechselausstellung zum Thema „Gardelegen im Blick der Aliierten Befreier“. Zur offiziellen Gedenktagveranstaltung wird es am Sonntag um 11.30 Uhr wieder Hunderte zur Feldscheune ziehen.

Seit einigen Jahren nimmt die Teilnehmerzahl ebenso zu wie die Aufmerksamkeit für die Gedenkstätte insgesamt, sagt deren Leiter Andreas Froese-Karow. Das hat seinen Grund: Seit 2015 gehört Isenschnibbe zur „Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt“. Zuvor hatte die Stadt die Anlage über Jahrzehnte allein betrieben. Mit dem Wechsel ist Isenschnibbe eine von nur sieben Gedenkstätten in Trägerschaft des Landes geworden. Die Stadt ist in eine Reihe mit prominenten Erinnerungsorten gerückt. Darunter die Gedenkstätte der deutschen Teilung in Marienborn, das Hinrichtungs-Gefängnis Roter Ochse in Halle oder der Stasi-Knast am Moritzplatz in Magdeburg. Die Aufnahme in die Stiftung erfolgte nicht zum Selbstzweck: In dieser Woche sind die Bagger angerückt.

Die einst vom Sozialismus geprägte „Mahn- und Gedenkstätte“ erhält für drei Millionen Euro ein Besucherzentrum mit Dauerausstellung – und damit eine völlig neue Konzeption. Dass es so kommen würde, galt zwischenzeitlich längst nicht mehr als ausgemacht. Vor gut einem Jahr fehlten im Landeshaushalt plötzlich die Mittel. Erst harsche Proteste auch von Opferverbänden im Ausland führten zur Kehrtwende. Das Land stellte 2,85 Millionen Euro für den Neubau bereit.

Er sei dankbar, dass die Entscheidung so und nicht anders fiel, sagt Froese-Karow. Gardelegen stehe wegen der Aufnahmen der Amerikaner exemplarisch für die Todesmärsche am Ende des kollabierenden Nazi-Reichs. Geht es nach ihm, wird die Gedenkstätte bei diesem Thema künftig auch bundesweit Akzente setzen.

Nach der für Ende 2019 geplanten Eröffnung rechnet Froese-Karow mit deutlich mehr Besuchern. Schon jetzt kommen jährlich mehrere tausend. Im 800 Quadratmeter großen, länglichen Besucherzentrum sollen sie die Vergangenheit – angelehnt an die Märsche der Häftlinge – in Form einer Wegstrecke nachempfinden. Anhand von Bildern, Zitaten und Originalgegenständen soll sich die Betrachtung dabei vom Gardelegen der NS-Zeit über das Massaker bis zur Vereinnahmung des Gedenkens durch die DDR-Führung erstrecken.

Das Außengelände wird dabei einbezogen, sagt Froese-Karow. An passenden Stellen weisen Fenster in die Umgebung: etwa auf die Richtung, aus der einst die Häftlinge zur Scheune getrieben wurden; auf einen ehemaligen Flugplatz der am Massaker beteiligten Luftwaffe und schließlich auf das Gräberfeld. Ein Herzstück der Ausstellung wird ein Filmraum bilden. Darin will die Gedenkstätte die Aufnahmen der Amerikaner zeigen. Die Bilder werden den Tatort schonungslos so präsentieren, wie ihn die US-Truppen 1945 vorfanden. Nichts für jedermann. „Wir überlassen den Besuchern selbst, ob sie sich das anschauen wollen“, sagt der Gedenkstättenleiter.

Ob mit oder ohne Originalfilm – nach dem Besuch sollen sich die Gäste künftig möglichst fragen: „Was hat das alles mit mir heute zu tun?“, sagt Froese-Karow. Was Menschen einander antun können und welchen Beitrag jeder Einzelne leisten kann, um genau das zu verhindern – das wird am Ende wohl die eigentliche Botschaft sein, die Besucher mitnehmen können. Der Vertreter der heutigen USA in Mitteldeutschland, Generalkonsul Timothy Eydelnant, teilt das Anliegen. Beim Gedenken zum 73. Jahrestag morgen wird er zu den Teilnehmern sprechen: „Gerade in Zeiten, in denen Populismus, Fremdenhass und Diskriminierung wieder aufkommen, ist es wichtig, an solche historischen Begebenheiten zu erinnern und aus der Vergangenheit zu lernen“, sagt der Amerikaner.