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Handwerk Der Kirchenretter von Stiege

Dachdeckermeister Helmut Hoppe gehört zu den ältesten Firmenchefs in Sachsen-Anhalt. Die Versetzung der Stabkirche ist für den 84-Jährigen eine Herzensangelegenheit.

Von Christoph Carsten Aktualisiert: 22.06.2021, 14:44
Dachdeckermeister Helmut Hoppe aus Stiege beaufsichtigt den Wiederaufbau der Stabkirche.
Dachdeckermeister Helmut Hoppe aus Stiege beaufsichtigt den Wiederaufbau der Stabkirche. Foto: Christoph Carsten

Magdeburg - Der Mann, der sich vorgenommen hat, eine ganze Kirche zu versetzen, ist seiner Heimat, dem Oberharz-Dorf Stiege, treu geblieben. Auf den ersten Blick hat Helmut Hoppe wenig Ähnlichkeit mit Fitzcarraldo, jenem von Klaus Kinski gespielten Exzentriker aus Werner Herzogs gleichnamigem Film, der für seinen Traum von einer Dschungel-Oper einen gewaltigen Dampfer über einen Berg im Amazonas-Gebiet schleppen lässt.

Und doch: Hoppes Vision, die alte Stabkirche Stück für Stück von ihrem Platz vor den Ruinen der Lungenheilstätte Albrechtshaus in den Ortskern des fünf Kilometer entfernten Stiege zu holen – sie mutet ähnlich spektakulär an wie Fitzcarraldos Opernprojekt. Der Plan: Die in Blockbauweise konstruierte Kirche in 2500 bis 3000 Einzelteile zu zerlegen, die erst nummeriert und anschließend am neuen Standort wieder zusammengesetzt werden sollen.

Bedächtig bewegt sich Hoppe über das Baustellengelände, er umschifft Stolperfallen, zeigt sachkundig auf die schweren, mit Schotter gefüllten Säcke am Rand des Gerüstes. „Ohne die würde das alles hier umfallen“, sagt er. Dahinter sind die Arbeiten am Neuaufbau bereits voll im Gange. Mit seinen 84 Jahren gehört Dachdeckermeister Hoppe zu den ältesten aktiven Firmenchefs in Sachsen-Anhalt. 2018 erhielt er den Diamantenen Meisterbrief der Handwerkskammer Magdeburg.

An ihrem alten Standort war die Stabkirche nicht nur der Witterung, sondern auch Vandalismus ausgesetzt.
An ihrem alten Standort war die Stabkirche nicht nur der Witterung, sondern auch Vandalismus ausgesetzt.
Foto: Stabkirche Stiege e. V.

Helmut Hoppe blickt zurück auf ein Leben, das vor allem durch die Arbeit geprägt ist. Jeden Tag steht der Dachdeckermeister um 5 Uhr auf, zum Frühstück gibt es eine Schüssel Haferflockensuppe und Tee. Seit mehr als 60 Jahren startet er seinen Tag auf diese Weise.

Als zweiter Sohn eines Landwirts in Stiege geboren, beginnt Hoppe 1950 seine Ausbildung zum Dachdecker. Mit Handwagen, Teerfass und wenigen Werkzeugen zieht er zu seinen Aufträgen – „das waren andere Zeiten“, sagt er. 1958 hat Hoppe seinen Meistertitel in der Tasche, ein Jahr später meldet er sein erstes Gewerbe in seinem Heimatort an. Hoppe bildet sich beruflich weiter, besucht die Ingenieurschule in Magdeburg, wo er 1964 seinen Abschluss als Hochbauingenieur macht.

Der Beruf ändert sich mit den Jahren rasant. Doch Hoppe arbeitet sich ein, bleibt stets auf der Höhe der Zeit. Selbst dem Computer verwehrt er sich nicht und erledigt Buchführung und Lohnabrechnung heute wie selbstverständlich digital.

Brand der Lungenheilstätte lässt Plan reifen

Helmut Hoppe spricht langsam und überlegt, mühelos ordnet er jedem Ereignis die genaue Jahreszahl zu. Mit klarem Blick erzählt er von den Stationen, die sein Leben ausmachen. Von den Herausforderungen der Wende etwa, als er für umgerechnet 100.000 Euro einen Forstbetrieb von der Treuhand erwirbt und das eigene Geschäft erweitert. Wie es ihn 1990 in die Politik zieht, wo er zunächst im früheren Gemeinderat sitzt, seit 2000 dann im Ortschaftsrat.

Der 22. August 2013 ist ein wichtiger Tag für Hoppe und das weitere Schicksal der Stabkirche. In der Nacht brennt die frühere Lungenheilstätte Albrechtshaus fast vollständig ab. Ursache: Brandstiftung. „Ich habe gesehen, was der alten Holzkirche drohen könnte. Mir war klar: Wenn wir sie retten wollen, muss sie weg hier“, erinnert sich Hoppe. Nicht nur die Witterung, sondern auch regelmäßiger Vandalismus hatten dem Sakralgebäude da schon sichtlich zugesetzt.

Hoppe, seit 2011 Ortsbürgermeister für die Wählergemeinschaft Heimat Stiege, beschließt, tätig zu werden. Schließlich handelt es sich bei der Stieger Stabkirche um ein einzigartiges Objekt: 1904/1905 baut das Unternehmen W. Witte aus Osterwieck das Gotteshaus in der Blockbohlenbauweise – das angewendete Baukastenprinzip sollte später im Bauhausstil zu Weltruhm gelangen. Mit ihrer Holzkonstruktion im norwegischen Drachenstil und dem spitzen Turm mit den roten Ziegeln ist die Stabkirche eine Ausnahmeerscheinung. Deutschlandweit gibt es lediglich zwei ähnliche Stabkirchen, eine davon in Hahnenklee im Harz.

Ein Blick in den Innenraum des Sakralbaus. So soll es in der Kirche an ihrem neuen Standort unweit des Stieger Bahnhofs bald wieder aussehen.
Ein Blick in den Innenraum des Sakralbaus. So soll es in der Kirche an ihrem neuen Standort unweit des Stieger Bahnhofs bald wieder aussehen.
Foto: Stabkirche Stiege e. V.

Nicht alle im Ort sind anfangs überzeugt

Nicht alle im Ort sind damals überzeugt vom Projekt Kirchenrettung. Doch Helmut Hoppe lässt sich nicht beirren und gründet im Dezember 2014 den Förderverein „Stabkirche Stiege e. V.“, dessen Vorsitzender er bis heute ist. „Zwei Fragen waren zu klären: Wohin mit der Kirche? Und: Wie soll das überhaupt gehen?“, blickt Hoppe zurück. Für den symbolischen Kaufpreis von einem Euro erwerben Hoppe und seine Mitstreiter das Gebäude von dem damaligen Besitzer, einer Berliner Immobilienfirma. Der Deal: „Bedingung war, dass wir die Kirche komplett abbauen und bis 2025 neu aufbauen.“

Bald ist auch ein kommunales Grundstück gefunden: Am Ortseingang Stiege, unweit des Bahnhofs mit seiner kleinsten Wendeschleife Europas und nur einen Katzensprung von Hoppes Betrieb entfernt, soll das Gotteshaus in neuem Glanz erstrahlen. Inzwischen hat sich der Traum von der Kirchenrettung zu einem Mammutprojekt ausgewachsen. Zimmerleute, Tischler, Gerüstbauer, Dachdecker, Elektroinstallateure, Holzrestauratoren, Glaser und Metallbauer sind mit an Bord. Im März 2021 beginnt der Abbau der Stabkirche am alten Standort.

Die Aufträge wurden zumeist an Firmen aus der Region vergeben, etwa an das Wernigeröder Architekturbüro Planungsring und die Werkstätten für Denkmalpflege GmbH Quedlinburg. Hoppes Dachdeckerei ist ebenfalls beteiligt: „Wir haben das Dach abgenommen und stellen es wieder her“, sagt der Meister. Beim Wiederaufbau kann ein Großteil der Originalbauteile verwendet werden, doch wo etwas ersetzt werden muss, macht sich der grassierende Materialmangel in der Branche bemerkbar. „Viele Materialien sind schwer zu bekommen und teuer geworden“, sagt Hoppe.

Beim Wiederaufbau der Stabkirche kommen zu 90 Prozent Originalteile zur Verwendung.
Beim Wiederaufbau der Stabkirche kommen zu 90 Prozent Originalteile zur Verwendung.
Foto: Stabkirche Stiege e. V.

Medienarbeit sorgt für Aufmerksamkeit

Doch der Verein ist findig und bekommt rund eine Million Euro Fördergeld zusammen. 600.000 Euro stammen aus einem Denkmalprogramm von Bund und Land, weitere Zuwendungen zum Beispiel von der Ostdeutschen Sparkassenstiftung, der Harzsparkasse, Lotto Sachsen-Anhalt und weiteren Geldgebern. Eine wichtige Rolle spielt eine geschickte Medienarbeit – von Anfang an schafft es der Verein um Sprecherin Regina Bierwisch, dem Projekt auch überregionale Medienöffentlichkeit zu verschaffen.

Die zehn Prozent Eigenanteil stemmt der Verein selbst – „die Mitglieder waren sehr tüchtig“, sagt Hoppe nicht ohne Stolz. „Wir haben Spendenveranstaltungen und Kuchenbasare ausgerichtet, die einzelnen Kirchenbänke haben wir verpachtet.“

Auch wenn die Fertigstellung seines Herzensprojektes nicht mehr allzu fern scheint – an die Rente denkt der 84-Jährige noch nicht. Einen Nachfolger für seinen Betrieb hat Hoppe dennoch schon gefunden. Sascha Magnus ist der Sohn von Hoppes Lebensgefährtin und hat seine Dachdeckerlehre in dessen Betrieb absolviert. Seit Magnus vor wenigen Jahren selbst seinen Meister gemacht hat, ist er als Thronfolger gesetzt.

Hoppes Kinder hat es indes in andere Bereiche verschlagen – der Sohn arbeitet als Oberarzt in Wernigerode, die Tochter als Krankenschwester in Nordhausen. „Medizinisch bin ich gut versorgt“, sagt Hoppe schmunzelnd. Er freut sich, bald mehr Zeit mit seinen Enkeln und Urenkeln verbringen zu können. „Früher war die Familie immer zusammen, heute leben alle etwas verstreut“, sagt der 84-Jährige und klingt dabei ein bisschen wehmütig.

Mit dem Aufbau der Stabkirche am neuen Standort geht es indessen gut voran. Seit Mitte Mai wird hier fleißig gearbeitet. Schon im September soll eröffnet werden. Anders als bei Fitzcarraldo im Film wird dieses Projekt wohl nicht scheitern. „Sofern wir alles richtig nummeriert haben, wird das auch klappen“, sagt der Dachdeckermeister verschmitzt.

Kurz vor Weihnachten 2020 wurden die Bodenplatte und die Fundamente am neuen Standort fertiggestellt.
Kurz vor Weihnachten 2020 wurden die Bodenplatte und die Fundamente am neuen Standort fertiggestellt.
Foto: Stabkirche Stiege e. V.