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Landtagswahl 2021 Staßfurt - Die verwundete Stadt

Nur gut die Hälfte der Stimmberechtigten im Wahlkreis Staßfurt ging am 6. Juni zur Landtagswahl. Ein Besuch deutet auf viele unbewältigte Brüche. Von einer Stadt, die nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch ihr Zentrum verloren hat.

Von Alexander Walter 16.06.2021, 22:55
Susan Beck, seit fünf Jahren Imbissverkäuferin im Zentrum von Staßfurt: "Die arbeitende Bevölkerung wird von vorn bis hinten verarscht.“
Susan Beck, seit fünf Jahren Imbissverkäuferin im Zentrum von Staßfurt: "Die arbeitende Bevölkerung wird von vorn bis hinten verarscht.“ Foto: Alexander Walter

Magdeburg - An der Stelle, an der einst stolze Gebäude das Zentrum von Staßfurt bildeten, erstreckt sich heute eine unbebaute, von jungen Bäumen umsäumte Mulde. In ihrem Zentrum ein Gewässer, das die Staßfurter „Stadtsee“ nennen – eigentlich ist es eher ein schmuckloser Teich.

An diesem Junitag 2021 spazieren Grüppchen von Geschäftsleuten, Schülern und Rentnern aus der Stadt über die Fläche. Zwei Mittfünfziger verbringen ihre Mittagspause auf einer Bank am Ufer des Gewässers. Ihr Thema: die Landtagswahl vor zehn Tagen. Mit nur 53,4 Prozent gingen dabei im Wahlkreis Staßfurt – erneut – deutlich weniger Menschen als im Landesschnitt (60,3 Prozent) an die Urne. Nur im Wahlbezirk von Halle-Neustadt (52,4 %) waren es noch weniger.

Gleichzeitig war die AfD mit 28 Prozent hier erneut besonders stark. 2016 hatte Matthias Büttner, AfD-Mann und gebürtiger Staßfurter, aus dem Stand das Direktmandat geholt. Diesmal scheiterte er zwar an CDU-Kandidat Sven Rosomkiewicz. Dennoch verzeichnete die AfD kaum Verluste: Um ganze 1,7 Prozentpunkte büßte sie bei den Zweitstimmen ein (28 %).

Einer der beiden Besucher auf der Bank versucht sich in einer Analyse: „Wo gibt es heute noch glaubwürdige Politiker?“, fragt der Herr mit grauem Haar. Willy Brandt, Helmut Schmidt – ja, das seien noch Persönlichkeiten gewesen. Aber heute? „Das Vertrauen ist verschwunden“, sagt der Mann. Seinen Namen will er lieber nicht nennen.

Ist verloren gegangenes Vertrauen einer der Gründe, warum so wenige Menschen in Staßfurt zur Wahl gegangen sind? „Das war schon immer so und hat viele Gründe“, sagt der Staßfurter. Dann signalisieren er und seine Begleiterin, los zu müssen. „Unsere Mittagspause ist fast zu Ende“, erklärt der Mann, nicht ohne im Fortgehen höflich zu lächeln.

Dass eine der Ursachen für das geringe Interesse der Staßfurter am Wählen direkt vor ihren Augen liegen könnte, lassen die beiden nicht durchblicken. Eine mit Graffiti übersprühte Info-Tafel berichtet allerdings: Staßfurt hat schon mal bessere Zeiten erlebt. Als Wiege des Kalibergbaus war die Stadt einst wohlhabend. 33 Fabriken gab es kurz nach Gründung des Kaiserreichs 1872. Dann aber ertranken die Kali-Stollen im Wasser. Ab dem 20. Jahrhundert senkte sich die Innenstadt auf 200 Hektar Fläche um mehr als sieben Meter ab:

Marktensemble, Rathaus, Stadtkirche – all das musste in den folgenden Jahrzehnten abgerissen – insgesamt mehrere hundert Gebäude.

Fast wirkt es auf Besucher, als habe jemand der Stadt das Herz geraubt. Wer will, kann die Absenkung des Zentrums auch als Fanal lesen auf das, was später kommen sollte: Noch 1900 war Staßfurt mit damals fast 40.000 Einwohnern (heutige Gebietsgrenzen) lebendige Kreisstadt. Das DDR-Fernsehwerk RFT mit 4000 Beschäftigten hatte hier seinen Sitz. Nirgends in der Republik war die Industriedichte höher als in Staßfurt, sagt Manfred Püchel, ehemaliger Innenminister und Ex-SPD-Landeschef.

Dann aber kam die Wende und mit ihr der Abstieg. Betriebe schlossen oder wurden verkleinert. Der Kreissitz ging erst an Aschersleben, später nach Bernburg. Heute leben noch 24.000 Menschen in der Stadt.

Staßfurt geht es damit nicht anders als vielen Kleinstädten im ländlichen Sachsen-Anhalt. Während in den Großstädten Halle und Magdeburg kräftig investiert wird und das Braunkohlerevier im Landessüden auf Milliarden hoffen darf, müssen die kleineren Zentren mit Brüchen und Abstieg nach der Wende in der Regel allein zurechtkommen.

Zwar gibt es auch in Staßfurt inzwischen neue Unternehmen, TechniSat etwa übernahm das Fernsehwerk. Die Innenstadt ist – dort, wo noch vorhanden – liebevoll saniert. Neue Ortsteile kamen hinzu. Doch die alte Wunde, die Staßfurt durchzieht, konnte das nie kitten. Manfred Püchel erklärt sich das Wahlverhalten der Einwohner dann auch zumindest zum Teil mit der Geschichte: „Staßfurt hat seine Mitte verloren und damit vielleicht auch ein Stück seiner Identität“, sagt er. Der 70-Jährige darf als glaubwürdige Stimme gelten. Bevor er in die Landespolitik wechselte, war der bei Etgersleben im heutigen Salzlandkreis geborene Politiker ab 1990 lange Kreischef der SPD.

Frust spiegeln auch die Menschen in der Staßfurter Innenstadt: Auf der heutigen Ladenmeile, der Steinstraße, verkauft Susan Beck seit Jahren tagein, tagaus Würstchen, Pommes, Burger: „Schauen Sie mal nach Bernburg oder Aschersleben. Im Vergleich zu Staßfurt sind das wunderschöne Städte“, sagt die Frau mit dunklem Haar, während sie ihre Würstchen wendet. Beck kennt ihre Staßfurter und die kennen sie. Immer wieder hält jemand an, grüßt, man duzt sich, spricht dieselbe Sprache.

Die Stimmung in der Stadt? „Die Leute haben die Schnauze voll“, sagt Beck über den Tresen. „Die arbeitende Bevölkerung wird doch von vorn bis hinten verarscht.“ Und: „Meinen Namen können Sie ruhig schreiben“, ergänzt sie.

Doch was genau meint die Verkäuferin, was bewegt die Menschen in der Stadt? Schnell wird klar: Der Frust über die Politik, er herrscht in Staßfurt auf vielen Ebenen. Eine Frau, um die 50, kurze Haare, die auf ihre Bratwurst wartet, mischt sich ein: „Früher gab es hier einen schönen Springbrunnen, an dem die Kinder planschen konnten. Jetzt haben sie für Tausende Euro so ein Metallgestell hingestellt“, sagt sie und deutet auf den Platz neben dem Imbisswagen.

Ein Bauarbeiter sagt, im Rathaus sitze die „größte Flachzange“ von allen. Oberbürgermeister Sven Wagner (SPD) habe es verschlafen, Förderanträge für Investitionen in die Staßfurter Kindergärten zu stellen.

Die Volksstimme hätte gern auch mit Wagner über die Stimmung in der Stadt gesprochen. Der Oberbürgermeister aber ließ mitteilen, keine Zeit zu haben. Zurück am Würstchenstand vermutet ein 27-Jähriger: „Die Leute dürften auch so abgestimmt haben, wie sie es taten, weil wir eine abgehängte Region sind.“

Es gebe nur noch wenige Geschäfte, kaum Industrie, sagt er. 50 bis 75 Prozent seines Jahrgangs am Gymnasium seien gegangen. Und andererseits sei da der AfD-Mann Matthias Büttner. „Der ist bekannt hier“, sagt der junge Mann.

Büttner kümmere sich, sagt auch Würstchenverkäuferin Beck – angeblich anders als andere. Auf das Thema Zuwanderung, mit dem die AfD noch 2016 punkten konnte, kommt an diesem Tag in Staßfurt übrigens keiner der Befragten zu sprechen. Beck selbst ist vor allem frustriert über die Sozialpolitik im Bund. „Ich arbeite hier seit fünf Jahren ohne einen Tag Pause“, sagt sie. Die Spritkosten, um in ihrer Heimat Köthen zu leben, könnte sie sich gar nicht leisten. Hartz-IV-Beziehern, die die Füße hochlegten, habe die Politik aber 150 Euro Corona-Plus zugebilligt.

Und dann die Diskussion um die Anhebung des von der Regierung angeschobenen Rentenalters auf 68. „Solange hält niemand durch“, sagt Beck. „Doch, als Politiker vielleicht“, ergänzt sie. In diesem Moment ist die Entfernung zwischen der Verkäuferin in Staßfurt und den Regierenden greifbar.

Doch in Staßfurt herrscht nicht nur Frust, die Grenze zwischen totaler Ablehnung und Zustimmung zur Politik zieht sich mitten durch die Schlange am Würstchenstand.

Gerade als Susan Beck auf die Corona-Auflagen zu sprechen kommt, mischt sich eine gut gekleidete ältere Dame von hinten ein. „Es gibt immer Leute, die unzufrieden sind“, ruft sie. Am schlimmsten seien die, die über die Corona-Politik herziehen. Und: „Staßfurt hat sich wunderschön verändert“, sagt sie. „Das sollten sich mehr Leute ansehen.“ Ihren Namen will auch sie nicht nennen – man kennt uns hier, flüstert sie.

Susan Beck ist still, wohl aus Rücksicht auf die Kundschaft. „Wenn ich dort kaufen könnte, wo die Dame gerade einkaufen konnte, würde ich mich auch nicht beschweren“, sagt sie später aber doch.

Sieger und Verlierer – Konsens und Frust: In Staßfurt zeigt sich: Zustimmung zur Politik hängt immer auch daran, ob Menschen sich und ihre Region mitgenommen sehen. Staßfurt und seine Bewohner mussten nach der Wende besonders viele Brüche verkraften. Vielleicht haben zu viele Menschen hier einfach den Glauben in ihre Gestaltungskraft verloren.