Leseranwältin Wie eine Tex-Bild-Schere entstehen kann

Der Bund will die Wirtschaft unter anderem mit Steuersenkungen ankurbeln, die Bundesländer fürchten massive Einnahmeverluste, man ringt um einen Kompromiss – das war dem Beitrag „Länder pochen auf Ersatz für Steuern“ am 19. Juni in der Volksstimme zu entnehmen. So weit, so richtig. Aber, wunderte sich ein Leser, was hat das in den Beitrag platzierte Foto der Ministerpräsidenten Günther (Schleswig-Holstein) und Schweitzer (Rheinland-Pfalz) mit dem Inhalt des Artikels zu tun?
Tatsächlich: Wenig bis nichts. Was den Leser mit Recht irritiert, ist eine sogenannte Text-Bild-Schere, das heißt, das Foto zeigt etwas, das im Beitrag keinen Bezug findet. Zwar kommen mehrere Ministerpräsidenten zu Wort, und natürlich haben sich im Rahmen der gesamten Debatte über das Thema auch irgendwann und irgendwo die beiden abgebildeten Politiker geäußert. Doch im konkreten Artikel werden sie und ihre Bundesländer mit keiner Silbe erwähnt.
Text-Bild-Scheren können bewusst als Stilmittel eingesetzt werden, um eine ironische Wirkung zu erzeugen. In der Regel jedoch sind sie als handwerkliche Fehler einzustufen, die unbeabsichtigt durchrutschen. Dementsprechend schwierig ist es, im Nachhinein zu rekonstruieren, wie es zu der Panne gekommen war. Nicht unwahrscheinlich, dass ein Verzerrungseffekt zugeschlagen hat, der in der Psychologie als Verfügbarkeitsheuristik bekannt ist. Menschen neigen dazu, ein Ereignis für umso wahrscheinlicher zu halten, je leichter sie es aus ihrem Gedächtnis abrufen können. Die Ministerpräsidenten Günther und Schweitzer sind generell gefragte Gesprächspartner, sie äußern sich in vielen Medien. Es ist für das Gehirn insbesondere eines Redakteurs, der unter hohem Zeitdruck steht, viel leichter, eine Beteiligung dieser beiden an der konkreten Diskussion für sicher zu halten, als dies in Frage zu stellen. Gut also, wenn uns Leserhinweise daran erinnern, dass man nicht alles glauben sollte, was man denkt.