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Luther-Effekt Eine Frage der Perspektive

Luthersocke, Luthernudeln, Lutherschnaps - in Sachsen-Anhalt dreht sich in diesem Jahr vieles um das Reformationsjubiläum.

16.08.2017, 23:01

Magdeburg l Es riecht köstlich auf dem Schlossplatz. Nein, der Duft kommt nicht aus der topsanierten Schlosskirche. Verantwortlich dafür ist der Mann an seinem kleinen Grill daneben. Das Geschäft läuft rund. Die Leute stehen Schlange. Natürlich, es gibt ja auch eine „Lutherwurst“. Viele der Menschen, die sich den Ort anschauen, an dem der Reformator seine 95 Thesen angeschlagen haben soll, greifen nach der Besichtigung zu. „Iss, was gar ist, trink, was klar ist, red, was wahr ist“, hat Martin Luther ja einst selbst gesagt. Wer will sich dem verschließen?

Wahr ist: Das 500-jährige Jubiläum lässt in Wittenberg die Kassen klingeln. Von Januar bis Mai ist die Zahl der Übernachtungen in der Region gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 12,5 Prozent auf 437.000 gestiegen. Bei den Gästen aus dem Ausland beträgt der Zuwachs sogar 44,8 Prozent. Mehr als 47.000 Menschen haben dem Lutherhaus zwischen Januar und Juni bereits einen Besuch abgestattet. Reisegruppe um Reisegruppe schiebt sich durch die Innenstadt: Deutsche, Chinesen, Norweger, Holländer – und besonders viele Amerikaner.

Einer von ihnen ist Bob. Der Endsechziger ist mit seiner Frau aus Kalifornien angereist. Von Wittenberg sind die beiden begeistert. „Great“ sei die Stadt, sagt Bob. Er sei zwar eigentlich Anhänger des Reformators Johannes Calvin. Aber der Luther sei auch ganz wichtig, sagt der bekennende Christ. „Zu seinem Jubiläum muss man einfach nach Deutschland kommen!“

Ein Besuchermagnet ist das Asisi-Panorama. Das riesige 360-Grad-Bild des Künstlers zeigt die Stadt im Reformationsjahr 1517. Allein 70.000 Besucher sind seit Mitte Mai gekommen, 250.000 sind es seit der Eröffnung im Oktober vergangenen Jahres.

Die Profiteure: Restaurants, Cafés, Einkaufsläden – über zu wenig Kundschaft können sie sich im Wittenberger Sommer 2017 nicht beklagen. Sie alle sind Nutznießer der Marketingmaschinerie und beteiligen sich bestmöglich daran: Luthersocken, Luthernudeln, Lutherschnaps, Luther-T-Shirts, Luther-Comics, Lutherkerzen – in der Lutherstadt ist es völlig unmöglich, sich dem Reformator zu entziehen.

Doch der konsumorientierte Tourismus ist nur die eine Seite. Auf der anderen steht die Kultur. Die Weltausstellung zieht nicht wie erhofft. Während die Innenstadt selbst unter der Woche rammelvoll ist, sind in der riesigen Freiluftschau mit moderner Kunst und den vielen Pavillons deutlich weniger Menschen anzutreffen – und das, obwohl die sieben Stationen im Grünen zentrumsnah fußläufig erreichbar sind. Tagestouristen fehlt nach der Besichtigung der Sehenswürdigkeiten wohl oft die Zeit für die „Tore der Freiheit“.

Möglicherweise trägt auch die Verkehrssituation dazu bei, dass die Ausstellung relativ leer bleibt. Aus dem Nordwesten ist Wittenberg schlecht zu erreichen. Zwischen Gommern und Leitzkau wird die Bundesstraße 184 saniert. Die Umleitung geht über die Dörfer: Gut 20 Minuten mehr Zeit müssen Autofahrer einplanen. Die 100 Kilometer lange Autofahrt von Magdeburg bis Wittenberg dauert dann etwa zwei Stunden. Im Radio laufen Tag für Tag außerdem die Meldungen rauf und runter, dass sich der Verkehr auf der A 9 wegen Bauarbeiten staut.

Zur Halbzeit Mitte Juli waren nur 70.000 Ein-, Zwei- oder Dreitageskarten sowie 5000 Saisontickets für die Weltausstellung verkauft worden. Anfang des Jahres wurde über rund eine halbe Million Besucher spekuliert. Dass die Wunschzahl erreicht wird, ist äußerst unwahrscheinlich. Nur bis zum 10. September ist die Ausstellung noch geöffnet.

Pfarrer Fabian Vogt betreut dort im „Tor Globalisierung“ mit seinem Team aus Hessen eine aus Holz aufgebaute und mittels LED-Lichtern in Szene gesetzte Mini-Kirche. „Der Besuch ist schon sehr schwankend“, bestätigt er. Es gebe zwar Tage, da würden 2000 Pfadfinder auf einmal kommen. „Aber dann gibt es eben auch Tage, an denen nur einige wenige vorbeischauen“, sagt Vogt. „Das ist für uns aber völlig okay“, schiebt er schnell hinterher. Dies sei alles eine Frage der Perspektive. Seine Kirche schaue nicht auf Zahlen, sondern will bewegen und zum Nachdenken anregen. „Und das geht in Einzelgesprächen viel besser, da sind eine andere Nähe und ein anderer Austausch möglich“, sagt der Pfarrer.

Das gelingt seinem Team durchaus. An der Kirche gibt es einen „Segensroboter“. Der Apparat mit dem Namen „BlessU-2“ erhebt auf Knopfdruck seine Metallarme und spricht – wahlweise mit männlicher oder weiblicher Stimme – ein Segenswort. Darf man das? Wo liegen die Grenzen von Digitalisierung und Spiritualität? Bedarf es ethischer Schranken bei künstlicher Intelligenz? „Für mich ist das nichts“, sagt ein Mann, nachdem er das Angebot ausprobiert hat. „Das ist völlig okay“, meint Pfarrer Vogt. „Darüber wollen wir reden. Der Roboter kommt nicht bei allen gut an. Aber diese Polarisierung ist gut.“

Lesungen, Konzerte, Gottesdienste, Mitmachangebote für Familien – viele Bereiche der Weltausstellung sind auch ohne Ticket (Tageskarte: 19 Euro) zugänglich. Doch für diverse Ausstellungen, das Riesenrad und den Turmaufstieg muss man zahlen – da blicken einige möglicherweise nicht ganz durch. Der Veranstalterverein Reformationsjubiläum 2017 e. V. räumt auf Anfrage der Volksstimme ein, dass in puncto Marketing nicht alles glattgelaufen ist.

Deshalb wurde zur Halbzeit bei der Werbung nachgelegt. Insgesamt sei man aber „zufrieden und voll im Plan“, sagt Geschäftsführer Ulrich Schneider. „Die Weltausstellung ist keine Pleite. Berichte dieser Art finde ich irritierend.“

Aufgrund der durchwachsenen Halbzeitzahlen hatten mehrere Medien das Jubiläumsjahr als Misserfolg bezeichnet. Das sieht Schneider naturgemäß anders. Der Geschäftsführer beruft sich darauf, dass die zweite Hälfte von Ausstellungen stets stärker ist als die erste. Schneider schätzt, dass inzwischen bis zu 200.000 Menschen die Höhepunkte besucht haben. „Es ist schwer zu bilanzieren, wie viele Besucher letztlich gekommen sind. Es gibt keinen Zaun um die Weltausstellung.“

25 Millionen Euro hat diese gekostet. Neben den staatlichen und kirchlichen Zuschüssen soll die Ausstellung auch durch Ticketeinnahmen finanziert werden. „Wir können nicht ausschließen, dass am Ende ein Defizit bleiben wird. Aber Sorgen haben wir keine“, sagt Schneider. „Es mag sein, dass manche Luthers überdrüssig sind. Wir erleben aber, dass besonders viele Menschen in die Region und nach Wittenberg kommen.“

Im Herbst soll Bilanz gezogen werden. Wenn die Zahlen am Ende nicht stimmen, wäre das schon der zweite große Misserfolg für die Evangelische Kirche in diesem Jahr. Die Kirchentage in Berlin, Wittenberg und Magdeburg blieben deutlich hinter den Erwartungen zurück. Zum großen Festgottesdienst auf den Elbwiesen kamen nur 120.000 Besucher, auf 200.000 hatte man gehofft. Beim Kirchentag auf dem Weg in Magdeburg waren nur 4000 statt 20.000 Menschen dabei. „Bei den Tickets sind wir hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Es waren aber dennoch viel mehr Besucher bei den Veranstaltungen“, übt sich Schneider in Zweckoptimismus.

In Sachsen-Anhalt ist in diesem Jahr ein kleines Plus bei den Gästeübernachtungen zu verzeichnen: In den ersten fünf Monaten des Jahres gab es mit 2,86 Millionen vier Prozent mehr als 2016. Bundesweit lag das Plus bei 1,3 Prozent. Besonders hohen Zuwachs verzeichnet die Landeshauptstadt Magdeburg mit 9,2 Prozent.

„Das zeigt, dass die internationale Vermarktung des Reformationsjubiläums Erfolg hatte“, sagt Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Die Landesregierung hofft darauf, dass das Luther-Jubiläum einen „nachhaltigen Tourismus-Effekt“ mit sich bringt. Die Hoteliers würden schon hohe Buchungen für 2018 verzeichnen, heißt es aus der Staatskanzlei. Regierungssprecher Matthias Schuppe sagt: „Wir merken, dass viele Sachsen-Anhalt zum ersten Mal richtig wahrnehmen, gerade im Westen. Wir sind zufrieden.“