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Marienhof Inklusion in der Praxis

Das alltägliche Miteinander von Menschen mit und ohne Handicap ist keine Selbstverständlichkeit. Nicht so auf dem Marienhof im Harz.

Von Sabine Scholz 20.04.2018, 01:01

Neinstedt l Es riecht nach frischer Farbe in dem großen Raum mit den Holzpfeilern, sichtbaren Deckenbalken und modernen Fenstern. Hier und in den angrenzenden Nebengelassen hatten einst Hühner und Schweine ihr Domizil, jetzt bieten die historischen Stallgebäude Kühltheken, stabilen Holzregalen, einem schicken Verkaufstresen, Tischen und Stühlen Platz. „Der alte Laden ist einfach zu klein geworden“, sagt Günter Kurczyk und blickt sich in dem Raum um, in dem geschäftiges Treiben herrscht. Zu diesem Zeitpunkt ist noch viel zu tun, damit alles bereit ist für die Neueröffnung des Ladens und eines Cafés. Dass man von diesem durch ein Fenster in die helle Backstube blicken kann, ist Absicht.

Der computergesteuerte Backofen, finanziert von der Wohnhilfe Bonn, erleichtert die Arbeit der Bäckerei, berichtet Meister Lutz Vanhöfen, während er Günter Kurczyk das Festtagsbrot zeigt, das zum Hoffest angeboten werden soll. Derweil widmet sich Bäcker Torsten Gerhard den Frankfurter Kränzen im Ofen. Zurzeit hilft nur ein weiterer Mitarbeiter mit Handicap in der Bäckerei mit, die ihr Mehl aus Thale bezieht. „Wir setzen unsere Beschäftigten entsprechend ihren Fähigkeiten und Neigungen ein“, erklärt Kurczyk. So sind zurzeit acht Menschen mit unterschiedlichem Hilfebedarf in der Landwirtschaft tätig, 20 arbeiten in der Gärtnerei, 16 in der Landschaftspflege.

Sie alle haben viel zu tun. Denn die Flächen müssen beackert, die 30 Tiere zählende Rinderherde betreut werden. Die Rinder des Marienhofs sind eine Mischung aus Deutsch Angus, Fleckvieh und Limousin-Rind, sagt der Werkstattleiter, während er durch den neu errichteten verglasten Flur auf der Rückseite des ehemaligen Stallgebäudes geht. Die Rinder liefern das Fleisch, das im Hofladen angeboten wird. Verarbeitet wird es auch zu Rinderwurst. Arbeit, die eine Metzgerei in Dankerode für die Stiftung erledigt.

Überhaupt setzt die Evangelische Stiftung Neinstedt, zu der der Marienhof gehört, auf eine enge Zusammenarbeit mit regionalen Firmen. Sei es beim Bau der neu entstehenden Parkplätze, beim Innenausbau der alten Scheunen, beim Pflastern der Hofflächen, beim Bau der neuen Fußgängerbrücke, die nun auch Menschen im Rollstuhl oder mit einer Gehbehinderung den Zugang zum Naturdenkmal Teufelsmauer ermöglicht. Fünf Jahre hat es von der ersten Idee einer neuen Brücke bis zu deren Aufbau gedauert, über 700.000 Euro waren erforderlich. „Zum Glück haben wir Geld aus dem Leader-Programm der Europäischen Union bekommen, rund 350.000 Euro. Sonst hätten wir das Projekt kaum umsetzen können“, sagt Kurczyk. „Alles, was wir investieren, müssen wir selbst erwirtschaften.“ Beim Erarbeiten helfe der Hofladen. Allein der Verkauf der Bioeier sei eine sichere Einnahmequelle – 1250 Hühner in ihren mobilen Ställen liefern täglich rund 800 Eier – für den Verkauf und die Verarbeitung im Café und in der Bäckerei.

„Wir haben noch viele Pläne“, so Kurczyk. Das nächste ist der Neubau einer kleinen Brücke über den Mühlgraben. Die alten Betonrohre müssen raus, damit das Gewässer besser fließen kann, bei Hochwasser keine Rückstaugefahr mehr besteht.

Auch hierfür werden regionale Firmen im Einsatz sein. Wobei für die Neinstedter die Stiftung mehr ist als ein wichtiger Auftrag- und Arbeitgeber. Die enge Verzahnung von Wirtschaft und sozialer Arbeit spiegelt sich im Dorfleben wider. Rund 1600 Einwohner leben in dem Ortsteil vom Thale. Sie haben eine Apotheke, einen Zahnarzt, einen Allgemeinmediziner, zwei Physiotherapeuten, einen kleinen Supermarkt in ihrem Ort. „Das liegt unter anderem daran, dass hier 400 Menschen mit Behinderungen wohnen und arbeiten“, sagt Diakon Hans Jaekel vom Vorstand der Stiftung.

Ihn begeistere immer wieder, wie selbstverständlich hier die oft zitierte Inklusion gelebt werde. Ob es bei Festen sei, bei Feuerwehrübungen oder -einsätzen, beim alltäglichen Einkauf, beim gemeinsamen Leichtathletiktraining bei SV Germania Neinstedt, das schon zu DDR-Zeiten selbstverständlich war. „Von den 200 Germania-Mitgliedern sind 100 Menschen mit einer geistigen Behinderung“, sagt Jaekel und berichtet, dass Neinstedt auch die „landesweit einzige wirklich integrative Kindertagesstätte“ habe. „In der gibt es nicht eine Gruppe ohne ein Kind mit Behinderung“, sagt der Diakon. 40 der 160 Kita-Kinder haben ein Handicap. Hier wachse ganz natürlich die Erfahrung, wie man miteinander umgeht – und das seit mehr als 150 Jahren.

Nicht nur für Jaekel ist der Marienhof, gelegen direkt an der neuen Umgehungsstraße Neinstedt, in Nachbarschaft zum Bahnhof und am Radwanderweg entlang der Bode, nicht nur das Tor in die Stiftung, sondern auch in ein inklusives Dorf Neinstedt. Menschen aller Generationen, mit und ohne Hilfebedarf arbeiten und leben hier zusammen, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Und weil zum Leben nicht nur Arbeiten, Wohnen oder Feiern gehört, sondern auch das Spielen, soll in Zukunft auf dem großen Areal des Marienhofes eine therapeutische Naturerlebnislandschaft entstehen. Für diese „Engelsmühle“ arbeite man mit der Firma Kulturinsel Einsiedel und dem Autor der Abrafaxe zusammen. Außerdem werden im Dachgeschoss einer alten Scheune demnächst Ferienwohnungen ausgebaut. Immerhin liege man an der Teufelsmauer, in einer touristisch interessanten Region.