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Pflegereform bringt mehr Geld für Demenzkranke und pflegende Angehörige / Ethikrat mahnt weitere Verbesserungen an Pflegeversicherung: Wenn der Rücken nicht mehr mitmacht, reicht das Geld nicht aus

Von Silke Janko 22.05.2012, 05:23

Bis zum Jahr 2050 wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen fast verdoppeln. Die von Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) angeschobene Pflegereform soll das deutsche Pflegesystem für den demografischen Wandel fit machen. Der große Wurf, sagen seine Kritiker, ist das nicht.

Magdeburg l Magdeburg, im Stadtteil Alte Neustadt. In einer Seitenstraße im Norden der Landeshauptstadt liegt die Wohnanlage "Am Vogelsang". In einer kleinen Drei-Raum-Erdgeschoss-Wohnung leben seit zwölf Jahren Sigrid und Gerhard Knuth. Ihr Mann ist nach einem Schlaganfall, den er 1999 erlitten hatte, ein Pflegefall. Er kann nicht mehr laufen, sitzt im Rollstuhl, hört schwer und kann sich infolge seines Schlaganfalls nur schwer verständlich äußern. Der einstige Prüfingenieur im früheren Magdeburger ASMW (Amt für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung) ist bei der Bewältigung seines Alltags auf die Hilfe seiner Frau angewiesen.

Und auch sie hat nach einer Operation an der Hüfte gesundheitliche Probleme, bewegt sich mit dem Rollator fort. "Für uns ist die Wohnung hier optimal", erzählt die Seniorin. Schwer heben kann die 77-Jährige nicht mehr, seit sie vor Jahren an der Wirbelsäule operiert worden ist. Seitdem unterstützen die Malteser Sigrid Knuth bei der Pflege ihres Mannes.

Monatlich zahlen die Knuths 250 Euro aus eigener Tasche

Der ambulante Pflegedienst schaut sechsmal am Tag bei den Knuths vorbei. Das erste Mal am Morgen um 7 Uhr. Dann wird ihr Mann aus dem Bett geholt, gewaschen, angezogen, das letzte Mal am Abend gegen 19.30 Uhr, wenn ihn der Pfleger wieder ins Bett bringt. Sigrid Knuth kocht zwar noch selbst und bereitet die Mahlzeiten zu, das Einkaufen übernimmt vorübergehend - so hofft sie - derzeit die Tochter, die alle 14 Tage aus Gera bei den Eltern vorbeischaut. Viermal in der Woche kommt noch eine Physio- und eine Ergotherapeutin ins Haus, um ihren Mann einigermaßen mobil zu halten.

Für die Pflegestufe II ihres Mannes stellt die Pflegekasse monatlich 1100 Euro an Sachleistungen zur Verfügung, für die Gerhard Knuth beim ambulanten Pflegedienst der Malteser Hilfe einkauft. Der Betrag reicht allerdings nicht: Monatlich zahlen die Knuths 250 Euro aus der eigenen Tasche. "Das ist es mir wert", sagte die Seniorin, die nicht klagen will. Denn die schwere körperliche Arbeit, die vor allem das Heben ihres Mannes ins oder aus dem Bett ausmacht, kann sie nicht mehr übernehmen. Ein Heimplatz für ihren Mann kommt für sie nicht in Frage. "Er war zwischenzeitlich für mehrere Wochen in einem Heim, als ich im Krankenhaus war. Da wurde er nicht mal aus dem Bett geholt."

Rund 2,3 Millionen Menschen sind in Deutschland pflegebedürftig, die meisten von ihnen leben im häuslichen Umfeld und werden von nahen Angehörigen oder einem ambulanten Pflegedienst gepflegt. Im Jahr 2050 werden schätzungsweise 4,37 Millionen Menschen pflegebedürftig sein. Jeder dritte ist dann älter als 65, und es wird immer mehr Hochbetagte geben.

Zahl der Demenzkranken wird sich verdoppeln

Damit steigt auch das Risiko, im Laufe seines Lebens an Demenz zu erkranken. Die Krankenkasse Barmer GEK geht in ihrem jüngsten Pflegereport davon aus, dass sich die Zahl der Demenzkranken bis zum Jahr 2060 verdoppeln wird. Ein Demenzkranker benötigt, so die Barmer, pro Monat gut 500 Euro von den Pflege- und 300 Euro von den Krankenkassen mehr als ein durchschnittlicher Versicherter. Rechne man die steigende Zahl der Demenzkranken hoch, benötige man längerfristig einen zusätzlichen Milliardenbetrag. Aktuell wird von 1,2 Millionen Demenzkranken in Deutschland ausgegangen.

Für die Pflegeversicherung sind diese Prognosen eine tickende Zeitbombe: Weil die Bevölkerungszahl in den nächsten Jahrzehnten weiter sinkt, steht für die Pflegebedürftigen nicht nur weniger Pflegepersonal zur Verfügung, sondern auch die Finanzierung der Pflegeversicherung im Umlageverfahren wird an seine Grenzen stoßen.

Vor dem Hintergrund einer alternden Gesellschaft wollte die Bundesregierung eine große Pflegereform auf den Weg bringen: Deren Kernstück sollte eine für alle verpflichtende private Pflegeversicherung sein, in der jeder Versicherte selbst vorsorgt. Dazu gibt es allerdings noch erhebliche Unklarheiten. Fest steht nämlich bisher nur, dass der Bund die privaten Pflege-Zusatzversicherungen mit rund 100 Millionen Euro fördern will.

Mit dem im April im Bundestag debattierten Entwurf für eine Pflegereform setzt Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) vorerst auf zwei Dinge: Die Stärkung der ambulanten Versorgung von Demenzkranken und deren Pflege im häuslichen Umfeld.

Dazu soll ab Januar der Beitragssatz der Pflegeversicherung um 0,1 Prozentpunkte von 1,95 Prozent auf 2,05 Prozent (bei Kinderlosen von 2,2 auf 2,3 Prozent) angehoben werden. Dadurch fließen ab 2013 rund 1,14 Milliarden Euro mehr in die Pflegekasse. Die Mehreinnahmen sollen vor allem Demenzkranken und ihren Familien zugutekommen. So soll Demenzkranken, die keine Pflegestufe haben, also nicht auf eine Pflegezeit von täglich 46 Minuten kommen, denen aber eine eingeschränkte Alltagskompetenz attestiert wird, in der sogenannten Pflegestufe 0 monatlich 225 Euro an Sachleistungen oder ein Pflegegeld von 120 Euro gezahlt werden. Auch in der Pflegestufe 1 soll das Pflegegeld für Demenzkranke auf 305 Euro, die Sachleistungen auf bis zu 665 Euro angehoben werden. Für die Pflegestufe 2 sieht der Entwurf ein Pflegegeld von 525 Euro und Pflegesachleistungen von bis zu 1250 Euro vor. Möglicherweise könnte sich damit die Situation von Familie Knuth verbessern. Mit etwas mehr Geld könnte Frau Knuth weiter entlastet werden.

Familien, die ihre demenzkranken Angehörigen betreuen, sollen nach dem Gesetzentwurf einfacher als bisher eine Auszeit (bisher sind vier Wochen möglich) nehmen können. Das Pflegegeld soll dann zur Hälfte weitergezahlt werden. Außerdem sollen neben den ambulanten Pflegediensten Betreuungsdienste zugelassen werden, die sich speziell um Demenzkranke kümmern. Als Alternative zum Heim sollen auch sogenannte Pflege-WGs mit bis zu 20000 Euro gefördert werden.

Selbständigkeit der Patienten so weit wie möglich erhalten

Offen bleibt die Reform des Pflegebedürftigskeitsbegriffs, der von Experten als die Grundlage bezeichnet wird, um die Gesellschaft auf die Herausforderung einer alternden Gesellschaft vorzubereiten. Schon Bahrs SPD-Vorgängerin Ulla Schmidt hatte dazu Planungen angeschoben. Offensichtlich, weil es um enorme Folgenkosten geht, ist es dazu bisher nicht gekommen. Auch wird Bahr unterstellt, dass er dieses Projekt vermutlich in die nächste Legislaturperiode verschieben will.

Den großen Wurf hat Bahr, so das Deutsche Netzwerk für Sachverständige in der Pflege, nicht hingelegt. Der Deutsche Ethikrat hat in einer Stellungnahme zu "Demenz und Selbstbestimmung" Bahrs Vorhaben zwar gelobt. Dies seien aber nur erste Schritte. Betreuung und Pflege von demenzkranken Menschen müssten darauf abzielen, ihre Selbständigkeit so weit wie möglich zu erhalten und deshalb seien die Voraussetzungen für ihre Betreuung und die Unterstützung der pflegenden Angehörigen noch weiter zu verbessern. Pflegezeiten der Angehörigen müssten genauso wie Kindererziehungszeiten bei der Rente angerechnet werden.