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Prozess Sekretär konnte keine Akten mehr sehen

Statt Akten zu bearbeiten hat ein Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft Stendal diese im Schrank verschwinden lassen. Nun wurde er verurteilt.

Von Wolfgang Biermann 23.05.2017, 23:01

Stendal l 240 unbearbeitete Akten wurden am 8. Oktober 2015 bei einer Überprüfung im Kleiderschrank entdeckt. In 22 Fällen hat die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau den 40-Jährigen wegen Strafvereitelung angeklagt. Dabei ging es in sechs Fällen um Strafsachen und in 16 Fällen um Bußgeldsachen – allesamt verjährt.

Das heißt, infolge des Nichtstuns des Sekretariatsleiters sind von Amtsgerichten in Burg, Salzwedel und Stendal von 2012 bis 2013 verurteilte Straftäter unwiderruflich um die Zahlung von Geldstrafen herumgekommen. So fand sich in einer Akte der Vermerk „Strafe gezahlt“ und in einer anderen „Verfahren eingestellt“. Beide Einträge waren definitiv falsch und wurden dem Angeklagten zugeordnet. Weil sich in zwei der Strafsachen der Tatbestand nicht zweifelsfrei beweisen ließ, beantragte Oberstaatsanwältin Susanne Helbeg in diesen Fällen Freispruch, der auch so erfolgte.

Wie die Nachfolgerin des seit Oktober 2015 im Krankenstand befindlichen und im Februar dieses Jahres vom Dienst suspendierten Angeklagten als Zeugin aussagte, sind 65 Akten bis heute spurlos verschwunden. „Ich habe keine Akten vernichtet“, beteuerte der Angeklagte, räumte aber ein, „wahllos“ Akten in seinen Kleiderschrank getan zu haben: „Ich konnte die Akten nicht mehr sehen.“

Er habe sich insbesondere seit Anfang 2015 überlastet gefühlt und sei depressiv geworden. Er führte das auch auf private Probleme zurück. Es hätte Tage gegeben, an denen er „stundenlang auf den PC-Monitor gestarrt“ und Tagträume gehabt hätte. Anvertrauen hätte er sich aus „Angst und Scham“ niemandem können. Er sei „im Leben immer auf der Suche nach Anerkennung gewesen“. Ein psychiatrischer Gutachter bescheinigte dem Angeklagten im Prozess denn auch eine „mittelgradige narzistisch-depressive Persönlichkeitsstörung“, die seine Steuerungsfähigkeit beeinflusst haben könnte. Das wurde im Urteil des Schöffengerichts unter Vorsitz von Richter Thomas Schulz strafmildernd berücksichtigt.

Von Vorgesetzten und Kollegen, allesamt Frauen, wurde der Angeklagte als kompetent, hilfsbereit und kollegial beschrieben. Er hätte sich sogar angeboten, zusätzliche Arbeiten zu übernehmen. Angesprochen auf Überlastung wehrte er jegliche Hilfe ab. Er hätte „alles im Griff“. Zudem war der Angeklagte noch Vorsitzender des Personalrates der Behörde.

Seine ehemalige Vorgesetzte sprach indes sehr konkret von Personalnotstand und der Überlastung im mittleren Dienst der Staatsanwaltschaft. Aktenberge seien die Regel in allen Büros. Die jetzige Geschäftsstellenleiterin sprach nach statistischer Berechnung indes lediglich von einer „Belastung von 80 bis 98 Prozent“ des Angeklagten.

Nicht nachvollziehen konnten Richter Schulz, wieso der Angeklagte einige Fälle nicht erledigt habe, die doch „nur wenige Minuten in Anspruch genommen hätten“. Antwort gab es keine.

Das Urteil, das ihn zusätzlich zur Zahlung von 1500 Euro an einen gemeinnützigen Verein verpflichtet, ist noch nicht rechtskräftig. Sollte es Bestand haben, ist die berufliche Karriere wohl zu Ende. Denn gegenwärtig läuft ein Disziplinarverfahren gegen den Angeklagten. Er fühle sich dienstfähig, möchte nur in einer anderen Behörde arbeiten.