„Der Fänger im Roggen“ prägt bis heute Autoren Ein Kultbuch wird 70

„Der Fänger im Roggen“ gilt als Grundstein für moderne Romane über das Erwachsenwerden, das Hadern, den Kampf um Selbstbestimmtheit und Freiheit. Bis heute prägt er die Autoren unserer Zeit. Vor 70 Jahren erschien der Roman – sein Alter liest man ihm kaum an.

Von Kaya Krahn 18.07.2021, 18:29
Der amerikanische Schriftsteller Jerome D. Salinger auf einer undatierten Aufnahme.
Der amerikanische Schriftsteller Jerome D. Salinger auf einer undatierten Aufnahme. Foto: dpa

Magdeburg - „Wenn ihr das wirklich hören wollt, dann wollt ihr wahrscheinlich als Erstes wissen, wo ich geboren bin und wie meine miese Kindheit war und was meine Eltern getan haben und so, bevor sie mich kriegten, und den ganzen David-Copperfield-Mist, aber eigentlich ist mir gar nicht danach, wenn ihr’s genau wissen wollt.“ Damit zeigt Salinger bereits im ersten Satz seines Romans „Der Fänger im Roggen“, worauf sich der Leser auf den rund 260 folgenden Seiten einstellen kann. Er spielt mit dem Wunsch, eine abgeschlossene Geschichte zu finden – und lässt ihn unerfüllt. Er bleibt fragmentarisch, zeigt nur das Wochenende, an dem sich der 16-jährige Holden Caulfield gekonnt in den Abgrund manövriert.

Jerome David Salinger wurde 1919 in New York geboren. Neben seinem weltbekannten Roman von 1951 publizierte er bis in die 1960er Jahre Kurzgeschichten. 2010 starb Salinger im Alter von 91 Jahren. Es gibt noch unveröffentlichte Texte von ihm, die sein Sohn Matt Salinger derzeit sichtet und publizieren möchte. Dies könne jedoch bis 2030 dauern, wie er der Zeitung „The Guardian“ sagte.

Am Freitag feierte die Erstauflage von „Der Fänger im Roggen“ ihren 70. Geburtstag.

Ein Abstieg ohne Erbarmen

Salingers Protagonist Holden füllt das Genre des Adoleszenzromans perfekt aus. Er ist jung, raucht, trinkt, und ihm gefällt „gar nichts, was passiert“ (vor allem keine Filme). Dazu kommt seine präzise Beobachtungsgabe, dieser zeitdiagnostische Moment, der unverzichtbar für die Gattung ist. Eine der Fragen, die ihn umtreibt: Wo verbringen die Enten aus der Lagune im Central Park den Winter? So banal sie auf den ersten Blick scheint, für ihn endet sie existenziell, im Winter auf einer Bank, mit der Angst vorm Tod.

Sein Abstieg ist vorhersehbar, nicht nur für den Leser, auch für Holden selbst, dennoch ist er unabwendbar. Die Motive auf dem Weg nach unten haben über die Jahre nichts an ihrer Aktualität verloren. Sexuelle Übergriffe – Holden wird von seinem ehemaligen Lehrer bedrängt –, die Auseinandersetzung mit psychischen Krankheiten – Holdens Mutter überwindet den Tod ihres anderen Sohnes Allie nicht –, bis hin zur Frage nach dem eigenen Sterben – Holdens einziger positiver Gedanke daran ist, dass er weiß, dass seine Mutter seine kleine Schwester nicht auf seine Beerdigung mitnehmen würde. Und natürlich die große Frage nach dem Sinn des Lebens. „Weißt du, was ich gerne sein würde? Also wenn ich die verfluchte Wahl hätte?“, fragt Holden seine Schwester. „Du kennst doch das Lied ,Wenn einer einen fängt, der durch den Roggen kommt’. Ich würde gerne ...“ Doch er hat sich die Liedzeile falsch eingeprägt. Sein Lebenstraum beruht auf einem Missverständnis, einem Erinnerungs-fehler. Er kann also gar nicht wahr werden, sein Traum, den es so wenig gibt wie die Liedzeile, auf der er beruht.

Roman zuerst verboten

Dass Salingers Roman bereits 1951 erschien, dürfte jeden überraschen, der das Alter nicht kennt. Denn im Text selbst finden sich kaum Anhaltspunkte zur erzählten Zeit. Nur Feinheiten, wie der Standardtanz in einer Bar, Fahrstuhlmänner oder eine aus heutiger Sicht verstörende Zuschreibung von sozialer Zugehörigkeit durch Koffer, deuten die 50er Jahre in New York an. Inhaltlich zeigt sich das Alter des Textes vor allem im negativen Umgang mit Homosexualität und Frauen.

Zu Recht gilt Salingers einziger Roman als Ursprung des modernen Coming-of-Age-Romans. Obwohl „Der Fänger im Roggen“ zunächst aufgrund der sprachlichen Ausfälle des Protagonisten in einigen Ländern verboten war – Holden sagt 255 Mal „goddamn“ (dt. Herrgott) und 44 Mal „fuck“ – nahmen sich viele nachfolgende Autoren ein Beispiel daran. Oder gerade deswegen. Übersetzt wurde der Roman unter anderem von Heinrich Böll.

Die prägnanten Sätze Salingers erinnern an Hemingway, der ihn nach eigenen Angaben stark beeindruckt hat. Sie trafen sich in Paris, damals war Hemingway Kriegskorrespondent. Salinger bescheinigte ihm damals „verteufeltes Talent“. Seine Art und Weise, zu erzählen, findet sich noch heute bei zahlreichen deutschsprachigen Gegenwartsliteraten wieder. Viele von ihnen nennen Hemingway selbst als einen ihrer größten Einflüsse. Ein Beispiel ist Christian Kracht mit seinem Debütroman „Faserland“ aus dem Jahr 1995. Er gilt als Ursprung des neuerlichen Aufschwungs der Gattung im deutschsprachigen Raum. Wobei jedoch zu bedenken ist, dass „Der Fänger im Roggen“ bereits in den 1970er Jahren seinen Weg in die deutsche Literatur fand: Ulrich Plenzdorf arbeitete ihn in seinem Roman „Die neuen Leiden des jungen W.“ auf.

Einfluss auf Popliteratur

Auf Plenzdorf folgte neben Kracht etwa der Popliterat Benjamin von Stuckgrad-Barre, der seine Protagonisten vorzugsweise in biografischer Anlehnung zu Grunde richtet. Oder Benedict Wells, der sich mit „Spinner“ zunächst vorsichtig an den Coming-of-Age-Roman herantastete, um dann mit seinem jüngsten Buch „Hard Land“ ein geradezu prototypisches Werk über das Erwachsenwerden zu schreiben. Themen wie die erste große Liebe, der erste Exzess, das Loslösen von den Eltern, all das sind Themen, die in „Der Fänger im Roggen“ ihren modernen Ursprung nehmen.

Neben den Auswirkungen auf die zeitgenössische Literatur nutzte Salinger damals selbst die Intertextualität zu vorausgegangenen Texten. Er bezieht sich etwa auf Fitzgeralds „Der große Gatsby“ – eine Geschichte, die Holden sehr schätzt. Hätte der 16-Jährige gewusst, dass Fitzgerald an einem der berühmtesten Drehbücher der Welt („Vom Winde verweht“) mitgeschrieben hat, jedoch nicht namentlich erwähnt wurde, dann hätte er Filme sicher noch „piefiger“ gefunden als ohnehin schon. Geradezu abscheulich, Herrgott, es hätte ihn fertig gemacht.