1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Schicksal hinter Magdeburger Stolpersteinen

Erinnerung Schicksal hinter Magdeburger Stolpersteinen

Fast 500 Stolpersteine erinnern in Magdeburg an verschiedene Menschen. Unter anderem an eine Zirkusfamilie und ein fröhliches Mädchen.

Von Manfred Zander 25.11.2018, 00:01

Magdeburg l Stolpersteine in Magdeburg stehen unter anderem für das Schicksal der jüdischen Zirkusfamilie Blumenfeld, der jungen Helma Zander sowie von Otto Jakob Rosenthal und seiner Familie. Sie sollen erinnern und nicht vergessen lassen.

Fast auf den Tag ist es hundert Jahre her, dass der berühmte Münchner Circus Krone sein Gastspiel in Magdeburg beendete.

Am 1. November hatte es begonnen. In den vier Gastspielwochen hatte sich viel ereignet - das Ende des Krieges, das Ende des Kaisereichs, die Revolution, die Gründung der Republik. „In der ganzen Zeit meines Gastspiels zeigten sich die Magdeburger täglich als rege Zirkusbesucher“, schrieb Direktor und Eigentümer Karl Krone in einem Inserat, das er unter dem Titel „Zum Dank!“ am 29. November in verschiedenen Magdeburger Zeitungen drucken ließ. Selbst „eine Verlängerung meines Gastspiels auf ein oder und selbst auf zwei Monate“ sei durchaus möglich gewesen. Doch leider werde das Gebäude nun für andere Veranstaltungen gebraucht.

Damit meinte Krone das feste Zirkusgebäude in der Königstraße. Es lag gegenüber der heutigen Universität. Eigentümer war die jüdische Zirkusfamilie Blumenfeld, deren Mitglieder in verschiedenen Gegenden Deutschlands lebten. Der Circus Blumenfeld – dem damaligen Gebrauch entsprechend mit einem „C“ geschrieben – wurde zu einem ein Glücksfall für die Stadt. Der neue Musentempel lockte zahlreiche Zirkusleute nach Magdeburg und schuf Arbeitsplätze. Außer Zirkus gab es Theatervorstellungen, Revuen und später Filme im Circus Blumenfeld.

Während des Ersten Weltkrieges lag die Führung des zeitweilig größte Zirkusunternehmens in Deutschland – seit 1885 unter dem Namen Circus E. Blumenfeld Wwe. – in den Händen von Simon Blumenfeld. Mit seiner Ehefrau Rosa hatte er elf Kinder. Als er im Juli 1918 starb, übernahmen vier der Söhne die Leitung des Unternehmens. Rosa Blumenfeld galt als die unumstrittene Prinzipalin. Der Krieg hatte das Geschäft geschädigt. In den ersten Nachkriegsjahren folgte nun ein neuer Aufschwung. Doch bereits 1928 ging das Traditionsunternehmen in Konkurs.

Einige von Rosa Blumenfelds Kindern verdingten sich bei anderen Zirkusunternehmen. Damit war Schluss, als 1933 die Verfolgung jüdischer Mitbürger einsetzte. Rosas Sohn Arthur zog nach Berlin, Sohn Eugen verstarb 1937. Ein Jahr später emigrierten nach dem Novemberpogrom auch Tochter Jeanette und die Söhne Alex, Alfons, Alfred, Willy, Fritz und Erich. Bei ihr blieb ihre Tochter Alice.

Im März 1942 wurde Rosa Blumenfeld gezwungen, ihre Wohnung in der Königsstraße 91 gegen eine kleinere in einem sogenannten Judenhaus einzutauschen. Alice begleitete sie auch dorthin. Am 18. November folgte die Deportation in das sogenannte Altersghetto im KZ Theresienstadt. Rosa Blumenfeld lebte noch vier Monate. Als sie starb, war sie 81 Jahre alt. Tochter Alice war bereits drei Tage nach dem Abtransport ihrer Mutter vor dem Terror in den Tod geflüchtet.

An Rosa Blumenfeld, ihre Tochter Alice und weitere Blumenfelds erinnern Stolpersteine nahe dem früheren Standort des Circus Blumenfeld.

Es geht um eine Fotografie. Wer sie betrachtet, muss genau hinschauen, um zu erkennen, wie viele Personen darauf eigentlich abgebildet sind. Und noch schwieriger dürfte es gewesen sein, alle Gesichter zu erkennen. Denn wie das bei solchen Schnappschüssen ist,ist manches Gesicht in den mittleren oder gar hinteren Reihen durch die Vorderleute verdeckt.

Zudem ist das Bild alt. Es entstand vermutlich kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und zeigt Kinder während eines Sportfestes. Es sind jüdische Kinder. Und das Foto ist wahrscheinlich auf dem jüdischen Sportplatz entstanden. Der lag gleich neben dem israelitischen Friedhof am Fermersleber Weg. Jüdische Kinder wurden ab 1938 aus den allgemeinen Schulen der Stadt verjagt. Stattdessen wurden zwei Sammelklassen in einem Seitengebäude der kommunalen 2. Gemeindeschule in der Kleinen Schulstraße gebildet. Damit war Schluss, als sich nichtjüdische Eltern beschwerten, weil ihre Kinder gemeinsam mit jüdischen Kindern die Toiletten benutzen mussten oder weil sie ihnen auf dem Schulhof begegneten.

1939 durfte die jüdische Gemeinde im Gemeindehaus in der Großen Schulstraße auf eigene Kosten die in Magdeburg verbliebenen 49 jüdischen Kinder unterrichten. Der Kantor und Religionslehrer Hermann Spier organisierte mit anderen Lehrern den Unterricht. Gelehrt wurde Geschichte, Englisch, Musik, Sport, Deutsch, Geografie, Arithmetik, Hebräisch und Religion.

Dass es die Fotografie noch gibt, ist Martin Freiberg zu verdanken. Er lebt heute in Australien. Auf dem Foto ist er zu sehen, wie er die Arme kräftig in die Hüften stemmt. Nach 1990 stellte er das Bild dem Kulturhistorischen Museum in Magdeburg für eine Ausstellung zur Verfügung. Er identifizierte viele der abgebildeten Mitschüler, Lehrer und Eltern. Das Mädchen neben ihm ist die gleichaltrige Helma Zander. Wie die anderen Kinder auch, blickt sie fröhlich in die Kamera. Der exakte Haarscheitel auf der linken Seite fällt auf. Die langen, vielleicht etwas widerspenstigen Haare auf der anderen Kopfhälfte sind mit einer Spange festgehalten. So können sie nicht ins Gesicht fallen. Die Haarspitzen drehen sich nach außen. Ein hübsches Mädchen.

Dass Helma in die Kamera lacht, mag verwundern. Sie war zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt und der Alltag der Familie ist voller Sorgen. Ihr leiblicher Vater, der nichtjüdische Arbeiter Otto Zander, war 1934 gestorben.

Drei Jahre später hatte ihre Mutti den jüdischen Bierbrauer Bernhard Berendsohn geheiratet. Doch seit längerem wurde Hertha Zander-Berendsohn im Zuchthaus Waldheim gefangen gehalten. Umso liebevoller umsorgte der Stiefvater die Kinder, das Nesthäkchen Bernhard und die vier Schwestern Helma, Irmgard, Adolfine und Ruth.

Berendsohn muss stolz auf Helma gewesen sein. Im Dezember 1940 schrieb er Verwandten in Hamburg, dass „meine zehnjährige Tochter Helma durch einen Sologesang“ geholfen habe, eine Feier in der jüdischen Gemeinde zu gestalten.

Am 6. Juli 1941 kam Hertha Berendsohn frei. Doch es war nur ein kurzer Augenblick des Glücks. Neun Tage später wurde sie ins KZ Ravensbrück verschleppt und ein Jahr darauf ermordet. Ihre Tochter Helma hatte nach dem Sportfest noch drei Jahre zu leben. 1942 wurde sie wie ihr Stiefvater, die Schwestern und ihr Halbbruder im KZ Treblinka umgebracht.

Auf dem Gehweg, wo früher die Schützenstraße 7 lag, erinnern Stolpersteine an das Mädchen und seine Familie.

Vermutlich brachte die Liebe den Kaufmann Otto Jakob Rosenthal von Frankfurt am Main nach Magdeburg an der Elbe. Seine Liebste hieß Lisbeth Wally Tendeloff und stammte aus Halle. Am 22. März 1915 heirateten sie. Otto war jüdischen, Lisbeth evangelischen Glaubens.

Noch im gleichen Jahr brachte seine junge Frau – sie war bei der Trauung 24, er bereits 36 Jahre alt – Sohn Hans zur Welt, das erste von acht Kindern. Die Familie wohnte in der Neuen Neustadt, Weinbergstraße 14. Otto Rosenthal betrieb dort eine Zigarren- und Zigarettenhandlung. Das muss zu einem bescheidenen Wohlstand gereicht haben, denn in der Mitte der 1920er Jahre nahm sich die Familie in der Altstadt eine andere Wohnung. Die Scharnhorststraße, die heutige Haeckelstraße – galt als gut bürgerliche Wohngegend. 1930 folgte der nächste Umzug, dieses Mal in eine neue Siedlung an der Jerichower Straße. Zudem pachtete die Familie in der Kleingartenanlage Sülzwiesen-Privatweg ein Grundstück, auf dem sie 1935 eine Wohnlaube errichtete.

Seit der Geburt von Tochter Inge (1930) hatte sich Lisbeth Rosenthals Gesundheit verschlechtert. Am 31. August 1936 starb sie. Nun entfiel der Schutz, den sie als sogenannte Arierin aus Sicht der nationalsozialistischen Gesetzgebung darstellte.

Im November 1940 war Otto Rosenthal Großvater geworden. Enkelin Gittel lebte bei ihm. Sie war das Kind seiner in Berlin wohnenden Tochter Anneliese. Der Vater der kleinen Gittel war kein Jude. Beide durften deshalb nicht heiraten, und Anneliese galt in den Augen der NS-Rassengesetze als Rassenschänderin. 1942 wurde sie in Bernburg umgebracht.

Otto Rosenthal, seine anderen sieben Kinder und Enkelin Gittel kamen im gleichen Jahr ins Warschauer Ghetto, und von dort ins Vernichtungslager Treblinka. Gleich nach ihrer Ankunft wurden sie ermordet. Otto Rosenthal war 64 Jahre alt, seine Enkelin Gittel noch nicht einmal zwei Jahre alt.

An Otto Rosenthal, seine Kinder und seine Enkelin erinnern Stolpersteine vor dem Hauseingang Jerichower Straße 36.

(Der Beitrag basiert auf den Recherchen der Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine für Magdeburg.)

Zum Artikel "Neue Stolpersteine in Magdeburg".