1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Anna Kaminsky: "Es gibt noch viel zu tun"

SED-Opfer Anna Kaminsky: "Es gibt noch viel zu tun"

Seit 20 Jahren gibt es die Bundesstiftung Aufarbeitung. Chefin Anna Kaminsky zur Ost-West-Debatte und Problemen in Hohenschönhausen.

Von Massimo Rogacki 01.11.2018, 00:01

Volksstimme: Frau Kaminsky, darf ich noch zum 20. Gründungsjubiläum der Stiftung gratulieren?

Anna Kaminsky: Sicher dürfen Sie das. Der Festakt in Berlin war zwar schon vor zwei Wochen. Unsere Arbeit haben wir aber am 2. November aufgenommen. Mit damals sechs Mitarbeitern.

Und Sie waren vom ersten Tag an dabei?

Das stimmt. Zunächst als wissenschaftliche Mitarbeiterin, 2001 wurde ich dann Geschäftsführerin.

Wie hat sich die Arbeit der Stiftung verändert?

In zwanzig Jahren ist unglaublich viel passiert. Die Situation war schwierig. Zahlreiche Initiativen und Gedenkstätten, die heute so erfolgreich arbeiten, standen damals vor sehr prekären Verhältnissen. Viele dieser Einrichtungen, im Übrigen auch in Sachsen-Anhalt, waren Anfang der 90er Jahre vor allem durch bürgerschaftliches Engagement gegründet worden. Sie hielten sich durch die Arbeit von ABM-Kräften notdürftig über Wasser. Die Finanzierung war unsicher. Viele der Stellen sollten Ende der 90er Jahre auslaufen.

Und was passierte dann?

1998 wurde die Stiftung vom Deutschen Bundestag per Errichtungsgesetz gegründet. Das war ein Segen. Der Auftrag war: Die vielen Institutionen im Westen und Osten zu finanzieren, zu fördern und zu stabilisieren. Und dabei mit den jeweiligen Bundesländern und Kommunen zu kooperieren. In den vergangenen 20 Jahren ist auf diese Weise eine vielfältige, dezentrale Aufarbeitungslandschaft entstanden. Heute sorgen Vereine, Gedenkstätten, Archive, Opferverbände oder Museen dafür, dass die Erinnerung an die Geschehnisse vor und nach 1989 wachgehalten wird.

Wie etwa in der Gedenkstätte Moritzplatz. Dort waren Sie erst kürzlich.

Ja, ich sitze im wissenschaftlichen Beirat der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt. Die Gedenkstätte dort hat sich sehr gut entwickelt. Vielerorts in Sachsen-Anhalt passiert im Moment insgesamt unglaublich viel. Zum Beispiel in Marienborn, wo die Erinnerungsstätte für den damals wichtigsten Autobahn-Grenzübergang zwischen West und Ost weiter erschlossen und mit Ausstellungen für ein breites Publikum noch attraktiver gemacht wird.

Wie schätzen Sie die Entwicklung der Gedenkstätte Deutsche Teilung in Marienborn ein?

In den letzten 15 Jahren ist hier viel entstanden. Mit dem größten Grenzübergang an der innerdeutschen Grenze verbinden viele Menschen persönliche Erinnerungen. Der Gedenkort musste mit einem neuen Konzept zunächst ins öffentliche Bewusstsein zurückgeholt werden. Der Kontakt mit den Grenzsoldaten, das beklemmende Ambiente. Das wird in der neuen Dauerausstellung alles greifbar.

Die Landeszentrale für politische Bildung unterstützt seit 2017 wieder Schulfahrten in die Gedenkstätten. Warum sollten gerade jüngere Generationen Orte wie Marienborn aufsuchen?

Besuche in Gedenkstätten und an Erinnerungsorten sind überaus wichtig. Gedenkstätten können aber den Unterricht und die Vermittlung in der Schule nicht ersetzen. Sie können Unterricht ergänzen und am Ort und an Beispielen anschaulich machen. In erster Linie bleibt es aber die Aufgabe der Schule, über die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu informieren, über Krieg, Holocaust, Massenmord. Vor allem auch die Nachkriegsgeschichte ist wichtig, um die Geschichte beider deutscher Staaten zu verstehen. Wenn all das im Unterricht vermittelt wurde, können wir als Stiftung oder auch andere außerschulische Lernorte ergänzende Angebote machen. Schüler können an authentischen Orten sehr viel mitnehmen.

Kommen wir noch mal zurück zur Arbeit der Stiftung. Warum ist das Erinnern an DDR und SED-Diktatur auch in Zukunft wichtig?

Wir verhandeln heute in einer vor zwanzig Jahren kaum vorstellbaren Weise über Fragen der Demokratie und ihrer Gefährdung. Vor diesem Hintergrund zu wissen, was fehlende Demokratie, fehlende Freiheit bedeutet, ist sehr wichtig. Dafür brauchen wir die Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik, mit der NS-Diktatur und der DDR. Um für die Gefährdungen der Demokratie zu sensibilisieren, ist der Blick in die Geschichte der Sowjetische nBesatzungszone und der DDR lehrreich.

Und wie erreichen Sie Menschen, die sich von der Demokratie abwenden? Zeigen denn nicht rassistische Vorfälle wie in Chemnitz, dass die Aufarbeitungsarbeit noch ausbaufähig ist?

Eine schwierige Frage. Diese Vorfälle in Chemnitz sortieren sich natürlich in einen größeren Kontext ein. Es ist in jedem Fall kein rein ostdeutsches Phänomen. Man muss analysieren, worauf sich diese Proteste richten, wer sie vielleicht anstachelt und instrumentalisiert. Und dann muss man sehen, warum die Menschen so frustriert sind. Das ist die große Herausforderung für Bildungsarbeit, Politik und Gesellschaft.

Der Münchener Soziologe Armin Nassehi sprach kürzlich bei Ihrer Stiftung. Er sagte dort, die ablehnende Haltung gegenüber Flüchtlingen in Ostdeutschland habe mit „homogenisierenden Erwartungen an den Staat“ zu tun.

Ich denke, was er damit sagen möchte, ist, dass es in den ostdeutschen Bundesländern eine größere Erwartung dessen gibt, was der Staat leisten sollte. Aus der DDR waren es viele Menschen gewohnt, dass ihnen der Staat Entscheidungen abgenommen hat. Hinzu kommt: Im Westen gibt es natürlich eine viel längere Demokratieerfahrung. Es gibt diese Interpretation, dass die Form der Proteste im Osten Deutschlands auf dieses Defizit zurückzuführen sind.

Die Trennung, die Zeit der Teilung, inspiriert auch Künstler. Kürzlich wollte der Filmemacher Ilya Khrzhanovsky in Berlin-Mitte ein ganzes Häuserkarree mit einer Mauer abriegeln. Er wollte für Besucher ein diktatorisches Regime erfahrbar machen. Am Ende versagten die Berliner Behörden wegen Sicherheitsbedenken die Genehmigung. Was denken Sie über dieses Projekt?

Ich gehörte zu denen, die gegen dieses sogenannte Dau-Projekt protestiert haben und den offenen Brief von Lea Rosh unterzeichnet haben. Ich denke, dass hier Geschichte für ein kommerzielles Vorhaben missbraucht wird. Die Vorbehalte gegen dieses Projekt konnten nicht ausgeräumt werden, weil der Künstler es wie eine Geheimangelegenheit behandelt hat. Hinter einer künstlichen Mauer lassen sich die Erfahrungen in einer Diktatur nicht nachspielen. Insofern halte ich es nicht für richtig, mit diesen historischen Anleihen zu arbeiten. Das hat Disneyland-Dimensionen. Wer sich heute in eine Zelle sperren lässt, wird trotzdem nie nachempfinden können, wie sich Menschen, die unter der Diktatur von SED und Stasi litten, gefühlt haben. Man kann Diktatur und Unfreiheit nicht simulieren. Es sei denn, man will einen Gruseleffekt erzeugen – ob es dafür aber der Anleihe bei einem so schrecklichen Bauwerk wie der Mauer geben muss, das stelle ich infrage.

Apropos umstrittene Projekte: Was halten Sie von den Plänen für die „Einheitswippe“? Das Einheitsdenkmal kostet 17 Millionen Euro und soll vor dem Humboldt-Forum errichtet werden.

Ich bin ein Fan dieses Denkmals. Mir gefällt die Formensprache mit einer begehbaren überdimensionierten Schale. Das ist keine in Stein gegossene Botschaft. Durch den dynamischen Charakter macht es den Menschen deutlich, dass sie etwas bewirken können. Denn das macht das Wesen von Demokratie aus. Ich finde, da ist eine schöne Form für ein positives Ereignis in der deutschen Geschichte gefunden worden.

Gestritten wird in Berlin schon lange über die Weiterentwicklung des Checkpoint Charlie. Ist dieser Ort nicht beschämend für Berlin?

Der Checkpoint Charlie in seiner jetzigen Gestalt ist in der Tat ein Schandfleck. Rummel und Kommerz stehen hier im Mittelpunkt. Dass man sich am Kontrollhäuschen mit Schauspielern in Uniform ablichten lassen kann, das ist für mich makaber. Ich würde mir ein Dokumentationszentrum wünschen, in dem die Geschichte dieser Nahtstelle des Kalten Krieges dargelegt wird. Was macht diesen besonderen Ort, an dem sich die Panzer gegenüberstanden, aus? Ein Dokumentationszentrum könnte die Gedenkstätte Bernauer Straße sinnvoll ergänzen.

Und jeder Tourist will dort eigentlich nur die Mauer sehen.

Das ist dort schwierig. Meine Erfahrung ist trotzdem: Besucher nehmen das an, was ihnen angeboten wird. Wenn es am Checkpoint Charlie differenziertere Angebote gäbe, würden die sicher genutzt werden. Wenn ich nach Pompeji fahre, möchte ich auch wissen, wie es dort früher aussah. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es am Checkpoint Charlie auch gute Angebote gibt, etwa das Panometer von Jadegar Assisi oder die Blackbox Kalter Krieg. Dort bekommt man einen Eindruck davon, was Teilung für das Leben dies- und jenseits der Mauer hieß. Nun feilt auch der Berliner Senat mit einem Investor an einem Konzept für diesen Ort. Wir von der Stiftung sind in den entsprechenden Gremien vertreten. Wir plädieren schon lange dafür, dass der Wildwuchs ein Ende hat. Und es ist bedauerlich, dass man dafür 28 Jahre braucht.

Anderes Thema: Die Gedenkstätte Hohenschönhausen ist einer der wichtigsten Orte der DDR-Erinnerungsarbeit. Wie geht es dort weiter nach der Entlassung des umstrittenen Direktors Hubertus Knabe?

Vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme sollte nicht vergessen werden: Die Kollegen dort leisten sehr gute Arbeit. Das belegen die Besucherzahlen. Ich wünsche den Kollegen und Kolleginnen vor Ort, dass sie ihrer Arbeit mit der nötigen Ruhe nachgehen können und Projekte, die in Vorbereitung sind, weiterentwickeln können.

Es gab unter anderem Vorwürfe, dass Besucher „überwältigt“ würden, wenn etwa Zeitzeugen mit ihnen Verhörsitutionen nachspielen. Sollte der Repressionscharakter des SED-Regimes in dieser Weise aufgegriffen werden?

Dazu kann ich nur sagen: Orte wie Hohenschönhausen, der Moritzplatz in Magdeburg oder auch der Rote Ochse in Halle sind der sichtbarste Ausdruck der Repression in der Diktatur. Das muss an diesen Orten sehr deutlich werden. Die Biografien von Menschen, die im Haftregime unterdrückt oder gefoltert wurden, sollten dort erzählt werden. Ich würde eine solche Art von Rollenspiel nicht durchführen. Wir haben andere Formen der Vermittlung.

Wie lang wird es die Stiftung Aufarbeitung noch geben?

Wir haben noch viel zu tun. Wichtige Themen müssen noch beackert werden. Natürlich müssen wir uns vor dem Hintergrund der aktuellen Ost-West-Debatte fragen: Was wurde versäumt, was hätte besser gemacht werden können? Die Aufklärung über die SED-Diktatur ist noch nicht beendet. Die Folgewirkungen endeten ja nicht mit dem Untergang der DDR. Vielen Menschen wurden Möglichkeiten der Lebensgestaltung in Zeiten der Diktatur verbaut. Lebensjahre wurden gestohlen, Familien zerstört. Viele Fragen sind offen. Die Rehabilitierungsgesetze sollten zudem entfristet werden, die Beweislast für gesundheitliche Schäden muss umgekehrt werden. Einige Opfergruppen, etwa verfolgte Schüler und Studenten, sind noch nicht richtig in den Blick genommen worden. Oder all jene, die an der innerdeutschen Grenze zwangsausgesiedelt oder über Nacht vertrieben wurden. Deshalb denke ich, dass die Stiftung kein Verfallsdatum hat.