Sachsen-Anhalter war jahrelang abhängig / Immer mehr Betroffene holen sich Hilfe bei Beratungsstellen Spielsucht: Eine Million Euro am Automaten verzockt
Magdeburg/Halle l Immer mehr Glücksspielsüchtige in Sachsen-Anhalt holen sich professionellen Rat. Einer von ihnen ist Andreas Schulz*. Um seine Automaten-Zockerei zu finanzieren, hat er insgesamt eine Million Euro Firmengelder veruntreut.
Als ihn seine Chefs nach sieben Jahren erwischten, fiel ihm ein Stein vom Herzen. Monat für Monat hatte er als Sachbearbeiter bei der Hallenser Abfallwirtschaft zu viel gezahlte Gebühren auf sein Privatkonto überwiesen - teils zigtausend Euro. Von sich aus aufhören, das konnte Andreas Schulz einfach nicht. Denn er brauchte das Geld, um seine falschen Freunde in der Spielhalle zu füttern. "Ich wollte es blinken sehen. Alles andere war mir völlig egal", erzählt der heute 50-Jährige.
Als die Veruntreuung 2005 aufflog, ergriff er seine Chance, von der Sucht loszukommen: Noch während er seine zweieinhalb Jahre im Gefängnis absaß, suchte sich Schulz einen Therapieplatz für die Wochen nach der Entlassung. Dann holte er sich Hilfe bei einer Suchtberatung.
In die 32 Beratungsstellen in Sachsen-Anhalt kommen immer mehr Glücksspielsüchtige. 335 waren es vergangenes Jahr - mehr als zweimal so viele wie 2007. Die Zahl der Abhängigen liegt einer Studie zufolge bei geschätzt 15000 Menschen. Drei Viertel sind Automatenspieler.
Die Verdoppelung bei den Ratsuchenden heißt aber nicht, dass sich auch die Zahl der Abhängigen verzweifacht hat, glaubt Carolin Lampe von der Landeskoordinationsstelle Glücksspielsucht. "Wir vermuten, dass ein zunehmender Anteil der Süchtigen Hilfe sucht. Schließlich spricht sich das Beratungsangebot durch Flyer und Co. immer mehr herum." Dass die Zahl der Süchtigen grundsätzlich zugenommen hat, schließt sie aber nicht aus.
Ein Indiz dafür seien all die kostenlosen Onlinespiele, die besonders junge Menschen zur echten Zockerei verführen können. Das Angebot reicht von Pokerschulen bis hin zu nachgeahmten Automatenspielen, bei denen ein putziger bebrillter Maulwurf und eine Kaugummiblase mit Krönchen über den Bildschirm laufen. "Außerdem werden die Automaten immer genauer auf Zielgruppen angepasst", sagt Lampe. "Für Frauen gibt es zum Beispiel einen mit Sissy-Motiven."
Andreas Schulz hat sich auch ohne niedliche Figuren in den Bann ziehen lassen. Die bunten Lichter, die fröhlichen Melodien brachten ihn in eine andere Welt. Denn in seiner eigenen wollte er nicht sein, als er mit Mitte 20 in den Strudel der Sucht geriet. "Meine Jugendliebe ist gestorben. Außerdem nagte an mir, dass meine Eltern mich nie ernst nahmen."
Das waren typische Voraussetzungen, um den Automaten zu verfallen, bestätigt der Psychiater Professor Bernhard Bogerts von der Magdeburger Universitätsklinik. Aus seiner Erfahrung besteht das größte Problem darin, die Sucht überhaupt zu erkennen. "Süchtig ist man, wenn alles im Leben auf das Spielen konzentriert ist."
"Als ich mit 40000 Euro nach Hause kam, konnte ich mich nicht freuen." - Andreas Schulz, Glücksspielsüchtiger
Schulz wollte die Sucht lange nicht wahrhaben - obwohl er fast täglich in die Spielhalle zog und sogar das Geld für die Miete verzockte. Als er dann Ende der 90er Jahre sein Problem erkannte, ließ er sich dennoch nicht helfen. "Die Scham war zu groß", sagt er. Stattdessen ging der Hallenser nun auch in Casinos, denn dort gab es mehr zu holen als in Spielhallen. Um die höheren Einsätze stemmen zu können, begann er mit dem Abknapsen der Firmengelder - zurückzahlen können wird der heutige Hartz-IV-Empfänger die verzockte Million Euro wohl nie. Laut Suchtberaterin Katrin Dobbert ist das keine Seltenheit. "Ein Fünftel meiner Klienten ist kriminell geworden", berichtet sie.
Bei seinen Spielen war Schulz irgendwann nur noch Verlierer - sogar, wenn er gewann. "Einmal bin ich mit 40000 Euro nach Hause gekommen. Freuen konnte ich mich nicht. Ich musste sie ja vor meiner Freundin verstecken."
Um die Gefahr zu verringern, dass Menschen wie er süchtig werden, hat das Land 2012 das Spielhallengesetz verschärft. Nun ist unter anderem vorgeschrieben, dass Mitarbeiter eine Schulung bei der Industrie- und Handelskammer absolvieren müssen, in der sie etwa lernen, wie man auffällige Spieler anspricht. Außerdem sind Einlasskontrollen Pflicht und jeder muss die Möglichkeit haben, sich sperren zu lassen. Laut einem Sprecher der deutschen Automatenwirtschaft finden die Spielhallenbetreiber die Regelungen wichtig. Sie würden helfen, unseriöse von seriösen Anbietern zu trennen.
Die Umsetzung läuft allerdings schleppend an. Die erste Schulung gibt es erst im November, da die Empfehlungen des Landes dazu erst jetzt fertig sind. Eine andere Hilfestellung des Landes funktioniert hingegen seit Jahren: In drei Beratungsstellen sitzt je ein Mitarbeiter, der mit öffentlichen Mitteln zum Glücksspielsuchtexperten ausgebildet wurde.
Schulz hat für sich noch mehr Helfer gefunden: Betroffene in einer Selbsthilfegruppe. Die Mitglieder reichen vom Arbeitslosen bis zum leitenden Angestellten; der Großteil sind Männer. Das entspricht dem Querschnitt der Süchtigen. Vor einem Rückfall ist der 50-Jährige nicht gefeit. Doch er hat ein paar Tricks - wie nie mehr als 30 Euro in der Tasche zu haben - und eine Motivation: seine zwei Söhne. "Die stehen zu mir - obwohl sie alles wissen."
* Name geändert