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Sternenkinder Trauer um verstorbene Babys in Magdeburg

Sie werden Sternenkinder genannt: Kinder, die nicht lebensfähig waren. In Magdeburg werden sie zweimal im Jahr beigesetzt.

07.04.2018, 23:01

Magdeburg l In einem Zimmer der Wochenstation in der 6. Etage des Magdeburger Klinikums fordert ein Baby lautstark sein Recht: Der vier Tage alte Junge hat Hunger. Seine Mutter, Lena Fraan, streicht dem Kleinen über den Kopf. Dann ist für eine Stunde Stillzeit.

Die 41-Jährige ist glücklich. Aber auch ein bisschen ängstlich. Seit zwei Jahren liegt der Magdeburgerin der Verlust ihres ersten Kindes auf der Seele.

„2016 wurde bei einer Schwangerschaftsuntersuchung festgestellt, dass unser Kind an Trisomie 18, auch Edwards-Syndrom genannt, leidet.“ Dabei handelt es sich um eine schwere Entwicklungsstörung, verursacht durch eine Chromosomenabnormität. Die betroffenen Kinder sterben noch im Mutterleib oder kurz nach der Geburt.

„Ich habe es nicht wahrhaben wollen, als mir gesagt wurde, dass eine Herzklappe fehlt und das Gehirn geschädigt ist. Ich war gespalten zwischen Hoffnung und tiefer Betroffenheit. Ich habe gar keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Ich war oft wie gelähmt.“

Die damals 39-Jährige setzte alle Hebel in Bewegung. Der Ultraschalluntersuchung allein, wollte sie nicht vertrauen. Sie klammerte sich an das Gutachten einer bekannten Genetikerin. Doch die Fruchtwasseruntersuchung war eindeutig: Das 18. Chromosom war dreimal vorhanden – Trisomie.

Lena Fraan spricht von einem „langanhaltenden Schockzustand“, von „Wut und Trauer“. Eine Frage habe wie ein Damoklesschwert über ihr gehangen: Warum ich?

Sie informierte sich bei der „Regenbogen“-Initiative, die sich mit „glückloser Schwangerschaft“ beschäftigt, Diskussionsforum ist und betroffenen Eltern Hilfe anbietet. Dann ihre Entscheidung: Spätabbruch in der 16. Woche.

Heute hadert sie nicht mit diesem Entschluss. Aber mit dem Wie. „Ich würde mir heute keine Schmerzmittel verabreichen lassen. Ich würde den Geburtsvorgang erleben wollen und nicht wie durch einen dicken Schleier. Ich würde mir mehr Zeit für einen bewussten Abschied lassen.“ Vor zwei Jahren standen Lena Fraan und ihr Mann mit anderen „Schmetterlings“-Eltern auf dem Westfriedhof vor dem kleinen, weißen Sarg und trauerten um ihr Kind.

Seit rund 15 Jahren werden auf diesem Magdeburger Friedhof zweimal im Jahr auf einer eigens dafür eingerichteten Stelle die „Schmetterlings“-Kinder bestattet. Die Initiative war einst vom Rechtsmedizisner Professor Dieter Krause ausgegangen.

Inzwischen kümmern sich Christoph Kunz, katholischer Seelsorger an der Uniklinik, und seine evangelische Kollegin vom Klinikum Magdeburg, Gesine Rabenstein, sowie Rechtsmediziner Dr. Norbert Beck um die Verabschiedung der Kinder. „Wir nennen sie auch ,still geborene Kinder‘", sagt die Pastorin. Es sei unerträglich gewesen, dass bis vor wenigen Jahren diese kleinen Geschöpfe teilweise mit dem Klinikmüll entsorgt worden sind. Eine Berliner Firma verarbeitete diesen Müll, einschließlich der Föten, zu einem Granulat, das im Straßenbau verwendet wurde.

Teilweise wurden die totgeborenen Kinder auch der Pharma-Industrie zu Forschungszwecken überlassen.

Gesetzlich sei die Beisetzung dieser Kinder nicht gefordert, so Seelsorger Christoph Kunz, und er erinnert sich an ein Geschehen, das ihn tief berührt hat. „Vor zwei, drei Wochen hat mir ein Paar ihr totgeborenes Kind, eingehüllt in eine Decke und mit den entsprechenden Papieren, selbst gebracht." Wunsch der Eltern war es, dass der kleine Leichnam bei der nächsten ökumenischen Trauerfeier für diese Kinder auf dem kleinen Friedhofs-Rondell beigesetzt wird.

„Alle Kliniken sind an der Ausrichtung der Trauerfeier beteiligt“, sagt die evangelische Pfarrerin. „Sie teilen sich mit der Stadt die Kosten.“ Wenn die Eltern es wünschen, werden die Kinder bis zur Trauerfeier – jeweils am Mittwoch vor Ostern und am 3. Mittwoch im Oktober – in der Pathologie aufbewahrt.

In diesem Jahr hieß das Zeremoniell „Wie ein Tautropfen“. Gesine Rabenstein erklärt warum: „Wasser ist Lebenselixier. Morgens glänzt der fragile Tautropfen auf dem Halm. Für einen kurzen Augenblick verkörpert er die gesamte Schöpfung. Dann fällt er wie eine Träne auf die Erde und benetzt sie, dringt in sie ein und reiht sich in den Kreislauf des Lebens ein.“

Tautropfen aus Papier wurden auch den Angehörigen der jüngsten Trauerfeier überreicht. Christoph Kunz: „Diese konnten sie gestalten – mit dem Namen des Kindes, mit Wünschen oder einem Gebet.“ Die Tautropfen wurden dann auf den weißen Sarg geklebt.

Zehn bis 40 Totgeburten werden bei jeder Trauerfeier bestattet. „Obwohl die Kinder tot zur Welt gekommen sind, haben viele Eltern eine tiefe Bindung. Es wird am offenen Grab getrauert, es fließen Tränen.“ Sehnsucht und Liebe seien zerstört. „Viele Fragen: Wie hätte mein Kind ausgesehen? Wie hätte es sich entwickelt? bleiben unbeantwortet.“

Das Abschiednehmen und ein Ort für Trauer seien für die Eltern ein wichtiger Schritt, um loslassen zu können und um den Mut zu schöpfen einen neuen Weg zu gehen.

Lena Fraan blickt liebevoll auf ihr vier Tage altes Baby. Sie hat 2016 bei der Beisetzung auf dem Westfriedhof den ersten Schritt auf diesem Weg getan. „Ob mir das ohne diese Hilfe gelungen wäre, weiß ich nicht“, sagt sie.

Es fällt ihr immer noch schwer, über den Tod ihres ersten Kindes zu sprechen und Tränen laufen ihr über die Wangen. Aber: „Ich möchte Leidensgefährtinnen Mut machen, das Thema nicht länger zu tabuisieren. Man muss sich seiner Trauer stellen. Auch wenn das unheimlich schwer ist.“