Karlsruhe bittet Landesregierung um Stellungnahme / Stockmann-Absage kein Zufall? Streit um Stasi-Landesbeauftragten: Verfassungsgericht nimmt Beschwerde an
Das Bundesverfassungsgericht will sich offenbar in das juristische Tauziehen um das Amt des Stasi-Landesbeauftragten einschalten. Die Landesregierung soll jetzt eine Stellungnahme abgeben.
Magdeburg/Karlsruhe l Vor zehn Monaten hatten die Verfassungsrichter in Karlsruhe die Beschwerde des wissenschaftlichen Mitarbeiters Söhnke Streckel auf den Tisch bekommen. Seither verzögert sich die Ernennung des vor einem Jahr gewählten Ex-Europaabgeordneten Ulrich Stockmann (SPD) zum Stasi-Beauftragten.
Streckel geht neben dem Kriminalisten Sven Gratzik juristisch gegen das 2010 von der Regierung organisierte Auswahlverfahren vor, war allerdings mit seinem Eilantrag vor dem Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt gescheitert. Die Begründung der Richter: Streckel hätte vor Stockmanns Wahl im Landtag zum Stasi-Landesbeauftragten Anfang November 2010 gegen diese Entscheidung vorgehen müssen. Seither hing das Verfahren in der Schwebe. Lange war ungewiss, ob sich das Verfassungsgericht mit dem Fall beschäftigen würde.
Mitte vergangener Woche wurde aus der SPD bekannt, dass Stockmann auf das Amt verzichten wolle, "um Schaden von dem Amt abzuwenden", wie es hieß.
Im Landtag wurde Stockmanns Entscheidung gewürdigt, zugleich fragte sich mancher, was die Ursache für den plötzlichen Meinungsumschwung ein Jahr nach der Wahl sein möge.
Die Palette möglicher Erklärungen ist seit gestern um eine Variante reicher. Denn noch bevor Stockmanns Entscheidung öffentlich wurde, hat man sich im Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschlossen, den Fall genau zu prüfen. Gerichtssprecherin Judith Bluhm sagte: "Wir haben die Landesregierung gebeten, bis zum Jahresende eine Stellungnahme zum dem Verfahren abzugeben." Nach Auffassung von Juristen ist das ein Zeichen dafür, dass sich das Gericht inhaltlich intensiver mit dem Fall beschäftigen wird. Damit könnte die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts kippen, Regierung und Stockmann könnten das Nachsehen haben.
War es dieses Risiko, das Stockmann und die SPD umschwenken ließen? Stockmann selbst war für eine Stellungnahme gestern nicht erreichbar.
SPD-Landes- und Fraktionschefin Katrin Budde ließ auf Nachfrage ausrichten, sie habe von der Anforderung des Bundesverfassungsgerichts an die Landesregierung "nichts gewusst". Und auch das SPD-geführte Justizministerium war gestern bemüht, den Eindruck eines Zusammehangs zwischen den Karlsruher Aktivitäten und Stockmanns Verzicht zu zerstreuen. Sprecherin Ute Albersmann räumte auf Nachfrage allerdings ein: "Die Terminkette ist wirklich eng."
Demnach sei Stockmanns Schreiben an das Justizministerium, in dem dieser seinen Verzicht auf das Amt erklärt, vom 22. November datiert und am 24. November im Ministerium eingegangen. Das Schreiben des Bundesverfassungsgerichts trägt das Datum 16. November. Die Sprecherin beteuerte: "Dieses Schreiben ist allerdings erst am Freitag, dem 25. November, im Ministerium eingegangen." Man habe Stockmann keinen Hinweis auf die Karlsruher Aktivitäten geben können, weil man "bis zum Freitag nichts davon gewusst" habe.
Dem Grünen-Landtagsabgeordneten Sören Herbst gibt der lange Postweg von Karlsruhe nach Magdeburg Rätsel auf. Süffisant merkte er an: "Ich habe nichts davon gehört, dass das Bundesverfassungsgericht seine Briefe neuerdings per reitendem Boten versendet."
Das Ministerium kündigte an, der Bitte um eine Stellungnahme nicht nachzukommen. Sprecherin Albersmann sagte, man wolle dem Verfassungsgericht lediglich mitteilen, dass Stockmann seine Bewerbung zurückgezogen habe. "Wir gehen davon aus, dass das Verfahren dann beendet wird."
Die Opposition im Landtag ist uneins darüber, wie man auf die Signale aus Karlsruhe reagieren soll. Linke-Fraktionschef Wulf Gallert stützt den Plan von CDU und SPD, schnell das Landesgesetz für den Stasi-Beauftragten zu ändern. "Dass sich jetzt auch Karlsruhe mit der Personalie beschäftigt, bestärkt mich in dieser Meinung", sagte Gallert.
Grünen-Politiker Herbst plädiert stattdessen dafür, mit einem neuen Gesetz so lange zu warten, bis das Verfassungsgericht entschieden hat. "Sonst würden wir Gefahr laufen, dass das neue Gesetz möglicherweise gekippt wird", sagte Herbst.
Im Fall einer inhaltlichen Entscheidung könnte sich das Verfahren bis Ende 2012 hinziehen.