Friedrich Eichler heuert als Butler auf dem Luxusdampfer an – doch dann kommt alles ganz anders "Titanic": Harzer Kellner entkommt Untergang
Am 14. April 1912 um 23.39 Uhr rammte die "Titanic" einen Eisberg und riss mehr als 1500 Menschen in den Tod. Auch Friedrich Eichler aus Straßberg sollte an Bord des Luxusliners sein.
Friedrich Eichlers Geschichte ist die eines Bauernjungen, der keiner sein wollte. Im verschlafenen Harzer Örtchen Straßberg wird er 1893 auf einem Bauerngut geboren. Das elterliche Gehöft, auf dem er erst seine Kindheit, dann seine Jugend verbringt, interessiert den Herangewachsen nicht. Er hat andere Pläne für sein Leben: Die Welt will er sehen, statt seine Tage im beschaulichen Harz zu fristen. Mit feinen Leuten verkehren, statt spröde Felder zu bestellen. Noblesse statt Tristesse, mag er gedacht haben. Als er 1912 die Chance erhält, auf dem Luxusdampfer "Titanic" den Atlantik zu überqueren, muss das für den inzwischen 19-Jährigen wie ein Sechser im Lotto gewesen sein. Doch der Reihe nach.
Zunächst ergattert Eichler einen Ausbildungsplatz im schnieken "Hotel Stubenberg" im harzerischen Gernrode und lernt das Kellnerhandwerk von der Pike auf. Als er den Abschluss in der Tasche hat, geht er als Geselle auf Wanderschaft. Erst zieht es ihn ins nähere Umland, später ins Rheinische.
Immer wieder wechselt Eichler die Betriebe, lernt hier neue Handgriffe, dort neue Herrschaften kennen. Nach ein paar Monaten zieht er weiter – immer mit einem guten Arbeitszeugnis in der Tasche. Irgendwann landet er so in Südengland, arbeitet mal in Restaurants, dann wieder in Hotels.
Inzwischen hat sich Eichler einen guten Ruf erarbeitet, und der macht die Runde. Ein englischer Lord, der per "Titanic" nach New York auswandern will, möchte den jungen Deutschen als Butler für die Überfahrt anheuern. Eichler ergreift die Chance. Am 29. Januar schreibt er die Schifffahrtgesellschaft Ismay, Imrie & Co. in Liverpool an. Für die pendelt seit ein paar Monaten bereits die "Olympic" zwischen Europa und Amerika. Ein paar Wochen später soll auch ihr Schwesterschiff "Titanic" zur Jungfernfahrt aufbrechen.
"Ihn dürfte weniger das Schiff oder Amerika gereizt haben", sagt Ursula Hönig, die Adoptivtochter von Friedrich Eichler. Mit ihrem Mann lebt sie in Straßberg und hat sich von ihrem Vater seine Geschichte erzählen lassen, als er noch lebte. "Es ging eher um die Arbeit als Butler bei einem Lord. Herrschaftliche Bedienung, das war sein Traum und Lebensinhalt."
Ende März erhält Eichler dann aus Liverpool die ersehnte Antwort der Schifffahrtgesellschaft: "Sobald wir von Ihnen in Bezug auf den Tag der Abfahrt und erforderliche Liegehäfen Näheres erfahren, wird es uns ein Vergnügen sein, Ihnen für den gewählten Tarif die beste Unterbringung, die wir bieten können, zuzuweisen."
Was dann geschieht, mag für Eichler erst ärgerlich sein, im Nachhinein aber die wohl glücklichste Fügung seines Lebens: Wenige Tage, bevor die "Titanic" zu ihrer ersten und letzten Fahrt aufbricht, wird der Harzer zum Kaiserlichen Militärdienst einberufen. Er habe den Dienst so schnell wie möglich ableisten wollen, erzählt Tochter Ursula. "Er sah das so: Das war eben Gesetz zu dieser Zeit, da wurde das auch gemacht", sagt sie. Eichler sagt seine Überfahrt mit dem englischen Lord ab.
Wie er im Nachhinein davon erfährt, dass die "Titanic" in der Nacht zum 15. April 1912 einen Eisberg rammt und bei ihrem Untergang mehr als 1500 Menschen in den Tod reißt, weiß Tochter Ursula nicht.
Wohl aber, wie es mit ihrem Vater weitergeht: Er leistet seinen Militärdienst ab, kämpft im Ersten Weltkrieg, kehrt zurück in sein Harzer Heimatörtchen Straßberg. Dort arbeitet er im Säge-, später im Bergwerk. Lernt eine Frau namens Martha kennen und heiratet sie. In den 1950er Jahren nehmen die beiden die damals neunjährige Ursula als Pflegekind bei sich auf.
An die Öffentlichkeit gelangt die Geschichte des verhinderten "Titanic"-Butlers erst durch Klaus Bethge. Der frühere Leiter der Straßberger Grundschule baut in den 1990ern ein Schul- und Heimatmuseum auf. Eines Abends, bei einem Kneipengespräch, erzählt ihm ein Bekannter zufällig von Eichler. Und siehe da: Er ging einst auf die Straßberger Grundschule.
Von Ursula Hönig erhält Museumsleiter Bethge eine Kopie des Originalbriefes und stellt sie im Museum aus. Dazu besorgt Bethge Plakate, die den Luxusdampfer zeigen, und stellt ein Schiffsmodell zu dem historischen Brief. "Und dann kam der ,Titanic‘-Film in die Kinos – plötzlich spielten alle verrückt", sagt er heute. Auch Eichlers Tochter Ursula hat den Film mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio mehrfach gesehen. "Klar denkt man sich da: Bei dem Unglück hätte er dabei sein können", sagt sie.
Friedrich Eichler selbst hat den Kinoerfolg nicht mehr erlebt. Er starb 1982 mit 89 Jahren. Zu seinem 90. Geburtstag, erzählt die Tochter noch, habe er eine Flasche Champagner ausgeben wollen – der 89. Geburtstag war ihm dafür noch nicht besonders genug. "Da war er ein bisschen pingelig", sagt sie lachend.