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Tod im Fluss Warum mussten zwei Kubaner sterben?

Vor 40 Jahren ertranken die kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret in Merseburg. Der Fall spaltet bis heute.

Von Bernd Kaufholz 01.08.2019, 01:01

Merseburg l Die Gaststätte am Merseburger Flussufer heißt eigentlich „Saaletal“. Aber alle nenen sie nur „Strandkorb“. Der Saal ist auch am 11. August 1979 wieder übervoll. Disco. Neben deutschen Jugendlichen sind auch DDR-Vertragsarbeiter aus Kuba und Ungarn unter den Gästen.

Gegen 23.30 Uhr kippt die Stimmung. Es kommt zu einer handfesten Auseinandersetzung, an der zehn bis zwölf Deutsche sowie je vier Kubaner und Ungarn beteiligt sind. Die offiziellen Berichte, Protokolle, handschriftlichen Aktenauszüge und Gesprächsnotizen sowie Vernehmungsunterlagen von zwei Kubanern und die von 31 weiteren Zeugen ergeben auch heute noch ein übereinstimmendes und schlüssiges Bild der Geschehnisse. Auch, wenn die kompletten Ermittlungsakten der Bezirkspolizei Halle heute nicht mehr vorliegen.

Anlass für den Streit war nach Einschätzung der damals ermittelnden Kriminalisten „aufdringliches Verhalten der kubanischen Bürger in der Gaststätte gegenüber weiblichen Personen“.

Wie aus den Unterlagen hervorgeht, wurden bei den folgenden Handgreiflichkeiten zwei Kubaner leicht verletzt. Sie erlitten Platzwunden, die ärztlich versorgt wurden.

Am nächsten Tag gegen 14 Uhr erstatten die Verletzten Anzeige. Um den Fall zu klären, ruft daraufhin die Volkspolizei eine fünfköpfige Ermittlungsgruppe ins Leben. Doch bevor diese zu tragfähigen Ergebnissen kommt, eskaliert das Geschehen.

Es ist der 12. August gegen 19.20 Uhr, als die Vertragsarbeiter vom karibischen Inselstaat ihren Plan in die Tat umsetzen und sich für die Schmach vom Vortag rächen wollen. Im „Saaletetal“ ist wieder Jugendtanz und 230 junge Leute bewegen sich zu Titeln wie „Cuba“ von Gibson Brothers, „Daddy Cool“ von Boney M. und „We are Family“ von Sister Sledge auf der Tanzfläche.

Schon vor der Gaststätte kommt es zum ersten Zwischenfall. Die rund 45 Mann starke Gruppe Kubaner umringt die zwei Schüler F. und J. und tastet sie ab (Leibesvisitation). Einer der Vertragsarbeiter hält den Jungs dabei ein feststehendes Messer unter die Nase und sagt etwas von „Rache nehmen“.

Kurz darauf stürmen acht bis zehn Kubaner das Tanzlokal und greifen die Gäste mit selbstgebastelten Schlagwaffen wahllos an. Zehn bis 15 Kubaner, die sich schon zuvor im „Strandkorb“ aufgehalten haben, unterstützen ihre Landsleute bei der immer wüster werdenden Keilerei. Sie werdenjedoch durch die zahlenmäßige Übermacht aus der Gaststätte abgedrängt.

Plötzlich gehen Scheiben klirrend zu Bruch. Kubaner werfen von draußen die Fenster ein. Der Gastwirt listet bei seiner Zeugenvernehmung später neun zerborstene Scheiben auf. Durch die Würfe und die Glasscherben werden mehrere Gäste verletzt.

Auf der Straße vor dem „Saaletal“ und im Umfeld des Lokals kommt es zu Massenschlägereien. Wie viele Menschen daran beteiligt waren, kann später nicht mehr genau beziffert werden. Belegt ist allerdings, dass sich die Gruppen auch mit Steinen und Weinflaschen bewarfen.

Im weiteren Verlauf des Geschehens flüchteten einige der an der Auseinandersetzung beteiligte Kubaner auf die Saalebrücke, über die die Fernstraße 181 verläuft. Andere springen ins Wasser, um auf die andere Uferseite zu gelangen.

Aus den Protokollen geht hervor, dass die DDR-Bürger „unterschiedlich reagiert“ haben. „Während einige die im Wasser schwimmenden Kubaner bewarfen – zum Beispiel mit Weinflaschen –, sprangen andere ins Wasser, um denjenigen, die schlecht schwimmen können, zu helfen.“

Als Feuerwehr und Polizei mit einem großen Aufgebot anrücken, ist die Auseinandersetzung bereits beendet. Ein Kubaner wurde von zwei Deutschen aus dem Wasser gezogen. Der Vertragsarbeiter David H. (Name geändert), der später der Polizei den Tatplan seiner Landsleute verrät, bleibt im Uferschlamm stecken und wird von einem DDR-Bürger herausgezogen. Ein dritter erreicht zwar das Ufer, wurde aber von einer Flasche am Kopf getroffen. Er wird mit einer Platzwunde ins Kreiskrankenhaus gebracht.

Ein Kubaner berichtet aufgeregt, dass er einen Landsmann nicht retten konnte, obwohl er mehrmals nach ihm getaucht ist. Tauchergruppen, Schnell- und Sturmboote sowie Polizisten zu Fuß suchen. Die Taucher bergen nach 21.15 Uhr zwei Leichen. Es sind der 21 Jahre alte Raúl Garcia Paret und der 18-jährige Delfin Guerra.

Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit sind ab 13. August an den Ermittlungen beteiligt. Auch an Vernehmungen. Als die Polizei am 14. August zwei Ermittlungsverfahren, sowohl gegen Kubaner als auch gegen Deutsche, einleiten will, verhindert die Stasi das.

Die kubanische Botschaft hingegen steht „einer Verfolgung der Rädelsführer durchaus wohlwollend gegenüber“ (Vermerke).

Die DDR-Behörden waren allerdings an der Verfolgung möglicher Straftaten im Zusammenhang mit den Vorkommissen am 11. und vor allem am 12. August nicht interessiert. Das geht auch aus einem „streng vertraulichen internen Gesprächsvermerk“ des ermittelnden Staatsanwalts vom 5. Oktober 1979 hervor. Belegt ist, dass 23 DDR-Bürger von den Ermittlern befragt wurden. Bei fünf von ihnen wurde geprüft, ob sie an der Tat unter strafrechtlichem Aspekt beteiligt waren. Allerdings wurden keine Verfahren gegen konkrete Personen eingeleitet.

Ebenfalls gehört werden 22 Kubaner. Die DDR-Behörden stoßen bei den Vertragsarbeitern auf eine Mauer des Schweigens. Lediglich David H. äußert sich. Alle anderen sagen lediglich, dass sie nichts mit den Vorgängen zu tun und schon gar nichts Strafbares getan haben.

David H. berichtet, dass sich seine Landsleute nach den Handgreiflichkeiten am 11. August rächen wollten. Sie hätten sich vorgenommen, im „Strandkorb“ eine Schlägerei anzuzetteln. Konkret sagt er: „Eine Gruppe sollte zuerst die Lage erkunden, eine zweite eingreifen, wenn es Probleme gibt.“

Der „Rädelsführer“ habe vorgeschlagen, aus Kabeln der Elektrowerkstatt der Leuna-Werke Schlagwaffen zu fertigen. Wer das nicht wolle, solle mit dem Gürtel oder der Faust schlagen.

Bei seiner Vernehmung auf den „Rachefeldzug“ angesprochen, sagt der Anführer lediglich, er sei betrunken gewesen.

Nach Abschluss der Untersuchungen werden die Ermittlungen gegen unbekannt am 27. August 1979 eingestellt. Die „Nachermittlungen“ der Staatsanwaltschaft Halle im Jahr 2016 ergeben, „dass das gesamte Geschehen keinen primär rassistischen Hintergrund hatte, sondern, dass der Racheangriff der kubanischen Bürger maßgeblich für die tätlichen Auseinandersetzungen war“. Aktenkundig sei lediglich eine ausländerfeindliche Äußerung, die ein Zeuge eingeräumt habe: „Schweine, euch schwarze Hunde sollte man erschlagen.“

Zu keiner Zeit sei bei den Ermittlungen 1979 von einem Tötungsdelikt oder einer sonstigen Gewalteinwirkung auf Guerra und Paret ausgegangen worden. Das betätige das Obduktionsprotokoll vom 15. August 1979: „Zeichen einer vor dem Tode stattgefundenen Gewalteinwirkung, die zu einer Bewusstlosigkeit geführt haben konnten, sowie vitale Verletzungen der Haut hat die Sektion nicht ergeben.“ Die Rechtsmedizinerin, die die Toten untersucht hatte, bestätigte 2016 dieses Ergebnis.

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