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Der australische Historiker Michael Abrahams-Sprod hat die Auswanderung jüdischer Jugendlicher aus Magdeburg im Nationalsozialismus erforscht Und die Großmutter fragte noch: "Müssen die Kinder wirklich weg?"

Von Andreas Stein 10.12.2011, 05:22

Magdeburg l Auf der Flucht vor den Nazis waren sie um die halbe Welt gereist: Knapp 20 jüdische Kinder und Jugendliche sind Ende der 1930er Jahre in Australien gelandet. Sie konnten rechtzeitig auswandern und wurden so vom Holocaust verschont, in dem der Großteil ihrer Familien umkam. Ihr Schicksal erforscht hat der australische Historiker Michael Abrahams-Sprod. 1946 geboren, stammt er selbst aus einer jüdisch-deutschen Familie und stieß bei seiner Suche nach Zeitzeugen auf die Jugendlichen aus Magdeburg. "Ihre Sehnsucht nach der Elbestadt war auch nach Jahrzehnten noch groß", sagt Abrahams-Sprod im Volksstimme-Gespräch.

Bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 lebten etwa eine halbe Million Juden in Deutschland. Auch in Magdeburg gab es eine große Gemeinde mit langer Tradition. Einige, vor allem jüngere Juden, waren Anhänger der zionistischen Bewegung, die für einen eigenen Staat im von Großbritannien verwalteten Palästina kämpfte. Die Lebensbedingungen in Deutschland wurden seit 1933 für die Juden immer schlechter - mit Judenboykott, Berufsbeamtengesetz und Reichsbürgergesetz drängten die Nazis sie Schritt für Schritt aus dem öffentlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben.

Gerade Jugendliche aus der zionistischen Jugendorganisation, die ohne Perspektive waren, diskutierten deshalb Möglichkeiten der Ausreise und besuchten bereits in dieser Zeit von der Reichsvertretung der deutschen Juden eingerichtete Schulungsfarmen. Dort lernten sie Hebräisch und die haus- und landwirtschaftlichen Grundlagen für einen Neuanfang in Palästina. Zwei dieser Farmen gab es auch in Magdeburg, und Stadt und Gestapo stellten sogar Ackerland zur Verfügung.

"Die Nicht-Zionisten unter den Juden haben eine Auswanderung erst nach Einführung der Nürnberger Gesetze im September 1935 in Erwägung gezogen", weiß Michael Abrahams-Sprod. Einen ersten Beleg für ausgewanderte Jugendliche der Synagogen-Gemeinde fand der Historiker für das erste Halbjahr 1936. "Aber niemand wollte wirklich weg. Die Eltern der Kinder dachten noch: Die Zeiten werden sich wieder ändern", beschreibt Abrahams-Sprod die damalige Stimmung.

Weder die Jugendlichen noch ihre Familien hätten sich auf den Schmerz der Trennung vorbereiten können. "Man hoffte, es ist nur auf Zeit." Wie die Auswanderung genau ablief, weiß der Historiker aus Zeitzeugengesprächen mit Inge-Ruth Herrmann, 1922 in Wolmirstedt geboren, und ihrer Freundin Gisela Kant. Beide waren 1936 zu einer Prüfung und einem Gespräch in Berlin gewesen, bevor die Zustimmung zur Ausreise erteilt wurde.

Erst seit Februar 1938 war eine Auswanderung ohne Begleitung möglich, Englischkenntnisse wurden vorausgesetzt. Jungs durften 15 bis 17 Jahre alt sein, Mädchen 15 bis 19 Jahre. Im Gespräch mit Michael Abrahams-Sprod konnten sich Inge-Ruth und Gisela noch gut an den Tag der Abreise im August 1938 erinnern.

"Wir frühstückten ganz normal, sind dann zum Bahnhof gefahren. Der Kakao blieb unausgetrunken auf dem Tisch zurück", berichtet der Historiker aus seinen Interviews. Die Familien der Mädchen hätten sich bemüht, Würde und Contenance zu bewahren. Nur die Großmutter fragte: "Muss das wirklich sein?" Inge-Ruths Mutter wurde auf dem Bahnsteig ohnmächtig, und als die beiden im Zug saßen, brachen sie in Tränen aus. Erleichterung und zugleich Angst fühlten sie beim Passieren der holländischen Grenze und nahmen dann ein Schiff nach Dover in England. Viele Habseligkeiten konnten Inge-Ruth und Gisela nicht mit auf die Reise nehmen, erinnern sich aber noch an eine Porzellanpuppe, ein englisches Langenscheidt-Wörterbuch und ein Farbfoto des Innenraums der Magdeburger Synagoge.

Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 hatten beide Mädchen regelmäßigen Briefkontakt nach Hause. Allerdings war die Post durch die Gestapo-Zensur oft an einzelnen Stellen geschwärzt oder herausgeschnitten, deswegen nutzten sie Rätsel zur Verschleierung. "Vater im Urlaub, nutzt Haarwuchsmittel" bedeutete "Vater ist im Konzentrationslager und kahlgeschoren", nennt Michael Abrahams-Sprod ein Beispiel. Bereits im Juli 1938 waren alle zionistischen Organisationen aufgelöst worden, bereits Ausgewanderte wurden von der Gestapo an der Rückkehr nach Deutschland gehindert. Mit der Pogromnacht im November 1938 wandelte sich die Diskriminierung der Juden zur systematischen Verfolgung, die wenige Jahre später in den Holocaust mündete. Für viele, die nun auswandern wollten, war es zu spät. "Die meisten der ausgewanderten Kinder und Jugendlichen haben ihre Familie nie wiedergesehen", sagt Historiker Abrahams-Sprod.

Inge-Ruth und Gisela waren später verbittert und hassten die Nazis für ihre Taten. Das sei eine Wunde, die nie verheilt ist. Beinahe alle der einst nach Australien ausgewanderten Jugendlichen sind zwar mittlerweile tot, doch für Michael Abrahams-Sprod sind sie quasi Familienmitglieder.

"Wenn ich durch Magdeburg gehe und an ihren alten Wohnhäusern vorbeikomme, denke ich an ihre Geschichte." Rund 400000 Juden konnten Deutschland in der NS-Zeit noch rechtzeitig verlassen, schätzen Forscher. 55000 davon wanderten bis 1941 nach Palästina aus. Der Rest ist in europäische Nachbarländer oder nach Übersee gegangen.