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Ritter-Spektakel Verrückt nach Mittelalter

Auf Weihnachtsmärkten in Magdeburg, Salzwedel und Wernigerode wächst die Begeisterung fürs Mittelalter. Ein Trend erfasst Sachsen-Anhalt.

Von Elisa Sowieja 12.11.2017, 00:01

Magdeburg l Mittelaltermärkte werden immer voller, Schulen in ganz Sachsen-Anhalt reißen sich um Termine für ein historisches Museumsprojekt, Gruppen und Vereine, die sich mit der Zeit der Ritter und Wikinger befassen, haben steigenden Zulauf. Und sogar auf den Weihnachts- und Wintermärkten, die bald wieder losgehen, findet man immer mehr Gaukler und Handwerkskunst aus längst vergangenen Zeiten, zum Beispiel in Magdeburg, Wernigerode oder Salzwedel. Woher kommt die wachsende Begeisterung fürs Mittelalter in der Sachsen-Anhalt? Aktive in der Szene erklären den Reiz.

Gestatten: Thoralf Karlsson, König der Sippe „Nordarri Beini“ – nordische Gastfreundschaft. Im wahren Leben trägt seine Hoheit den durchschnittsdeutschen Namen Marco Hofmann und ist Security-Kraft. Aber wer ein echter Freizeit-Wikinger sein will, der muss sich bei der Verwandlung voll reinhängen. Und das gewissenshaft: Marco Hofmann hat mehr als ein Jahr gegrübelt, bis ihm ein würdiger Name einfiel. Auch bei seinen Gewändern ist er pingelig. Baumwolle gibt‘s nicht. Hatte man ja früher nicht. Stattdessen trägt er Tuniken aus Leinen oder Schafswolle. „Bei Neulingen in unserer Sippe drücken wir ein Auge zu“, sagt der Chef großmütig. Aber nur eine Weile.

Apropos Sippe:  „Nordarri Beini“ ist eine Gruppe von knapp zwei Dutzend Wikinger-Freunden. Marco Hofmann hat sie 2012 gegründet, zusammen mit Freundin Melanie Müller, alias Runa Herbertsdottir. Die Truppe schlägt bei Mittelalterfesten ihr Lager auf. Dort stellt sie dar, wie die Menschen im frühmittelalterlichen Skandinavien lebten. Die Theorie haben sie aus Büchern und dem Internet. Sie hausen in Zelten, schnitzen Specksteine, kochen Buchweizengrütze. Und ja, die essen sie auch. Schmeckt angeblich. Manchmal wird sich auch gehauen, mit Schwert und Schild – allerdings nur nach Absprache. „Bei nächtlichen Überfällen auf andere Lager gibt‘s aber keine Warnung“, erklärt der grinsende Hofmann.

Die Gaudi bei der Magdeburger Sippe spricht sich rum: Inzwischen gibt‘s schon einen Aufnahmestopp, sagt der Chef. Warum er ausgerechnet aufs Mittelalter steht: „Man kann aus dem Alltag ausbrechen und das Leben entschleunigen. Selbst unsere drei Kinder vermissen den Fernseher bei Märkten nicht.“ Die sind übrigens die jüngsten Mitglieder. Praktischerweise konnten sie sich die Suche nach Wikinger-Namen schenken: Ihre Eltern haben sie gleich Lejff Thorfin, Anna Swaantje und Erik Thoralf genannt.

Als Kind liebte Peter Bonsa Ritterfilme. Heute wirft er sich selbst in eine schwarze Kutte und zieht mit Pfeil und Bogen los. „Nur weil ich groß bin und einen Bart trage, bin ich ja nicht gleich erwachsen“, ulkt er mit tiefer Stimme. Der 39-Jährige, Beruf Altenpfleger, ist Gründer des Vereins „Hospitaliter zu Magdeburg“. Der Name geht auf einen christlichen Ritterorden zurück, der im 11. Jahrhundert in Jerusalem gegründet wurde. Er soll auch in Magdeburg aktiv gewesen sein. Bei den Hospitalitern kommen Ritterfans voll auf ihre Kosten: Es gibt eine Gruppe für Schwertkämpfe und eine fürs Bogenschießen.

Aber nicht alles dreht sich ums Kämpfen. In Gruppe drei treffen sich Leute, die auf Mittelaltermärkten darstellen, wie die Hospitaliter Gutes taten. Denn als Pflegeorden kümmerten sie sich auch um Kranke. Auf dem Markt geht das so: „Einer ist der Dumme, der so tut, als ob er eine Verbrennung oder Schnittwunde hat. Der lässt sich dann mit Salben und Tinkturen verarzten.“ Welches Kraut man wofür nahm, wird genau erforscht, die Mitglieder halten sogar Vorträge. So ist es auch bei Waffen und Gewandungen. Man will den Zuschauern ja was beibringen.

Auf 30 Mitglieder ist der Verein seit der Gründung vor zwei Jahren gewachsen. Mit dabei: „Alles und jeder“, sagt Peter Bonsa. Allerdings mit einem gemeinsamen Nenner: „Wir vergesssen gern mal den Alltagsstress.“

Himmel, Arsch und Zwirn!“ Wie schön, wenn um einen herum kräftig geflucht wird und der Lehrer nix sagen darf. Das hier ist ja nicht die Schule, sondern das Magdeburg des Mittelalters – in Mini-Version. Im Hof des Kulturhistorischen Museums, vor türlosen Fachwerkhütten werben Leute in historischen Gewändern lauthals Personal an: Schmiede, Töpfer, Weber, Kaufleute. Die Schüler sind Mägde und Knechte auf Jobsuche.

Willkommen in „Megedeborch“. Das Mittelalterprojekt gibt‘s schon seit 21 Jahren. Es bringt Schülern aus Sachsen-Anhalt – Klassen drei bis zwölf – Magdeburger Stadtgeschichte bei, indem man sie spielt. Dafür schlüpfen rund 20 Ein-Euro-Jobber in die Rollen von Meistern. Mit ihnen schmiedet die Jugend Pfeilspitzen, flechtet Körbe, schnitzt Amulette. Nebenbei wird über damals erzählt. Werkzeuge und Möbel sind teils gespendet, teils selbstgebaut. Gesprochen wird wie früher: nicht zimperlich.

Leiter des öffentlich geförderten Projekts ist Museumsmitarbeiter Hartmut Ramme, in Megedeborch der Bürgermeister. „Wir sind immer ausgebucht“, erzählt er. „Wenn am Montag nach den Winterferien um acht die Anmeldung für die Saison beginnt, sind halb zehn alle Termine weg. Letztes Mal standen die Ersten schon um viertel fünf an.“ Woran das liegt? „Wir spielen den Kindern nichts vor, sondern machen sie zum Teil der Stadtgeschichte.“ Vielleicht zieht ja auch die Vorstellung, dass eine Großmagd oder ein Großknecht – sonst Lehrer genannt – bei Ungehorsam am Pranger landet.

Dn Oberschenkel hat er sich angezündet. Seine Schleimhaut verbrannt, die Lippe angekokelt, den Bart angefackelt. Ronald Walkoff, genannt Syri, rattert seine bisherigen Blessuren runter wie eine Einkaufsliste. „Berufsrisiko“, schiebt er entspannt hinterher. Der Erzieher-Azubi aus Magdeburg spielt seit acht Jahren mit dem Feuer. An Wochenenden tritt er deutschlandweit auf Weihnachtsmärkten, Hochzeiten, Geburtstagen auf. Erst seit zwei Jahren ist er auch beim „Spectaculum“ in seiner Heimatstadt dabei – da kommt man nicht so leicht ran, sagt er. Mittelalterfeste sind in seiner Zunft beliebt, und die Gruppen dort bringen ihren Feuergaukler meist gleich mit.

Schon als Teenie hörte Syri statt Radiogedudel lieber Harfen- und Schalmeienklänge, trug lieber Pumphosen als Jeans. Seit 2011 ist der heute 24-Jährige in einem Verein, der mittelalterliche Kultur pflegt. An den geht auch der Erlös seiner Auftritte. Geht man nach den Buchungen in Syris Terminkalender, ist die mittelalterliche Kunst immer gefragter: Standen da anfangs rund 20 Veranstaltungen im Jahr, sind es jetzt um die 50.

Und was reizt ihn am Spucken, Schlucken und Jonglieren mit Feuer? Das Spiel mit einem gefährlichen Element, sagt er – aber nicht nur. „Es ist auch die ganze Mittelalterszene: Das Miteinander dort ist sehr menschlich – wie in einer Familie.“

Am Anfang legten sie die Klamotten quer über die Regale, damit die 50 Quadratmeter Ladenfläche schön voll aussehen. André Liesegang und sein Team wollten erstmal gucken, was so weggeht. Ein paar Umhänge und Hemden, zwei, drei Sorten Met. Das war vor sieben Jahren.

Inzwischen ist der Magdeburger Mittelalterladen Aloria  doppelt so groß und proppenvollgestellt. Hosen, Tuniken, Kleider auf der einen Seite, Rüstungen,  Schwerter, Bögen auf der anderen. Dazwischen Schmuck und Met en masse. „Unsere Kunden kommen sogar aus Leipzig und Berlin“, sagt der Chef. Denn selbst in Großstädten gäbe es meist nur kleine Mittelalter-Läden. Die stärkste Käufergruppe: Leute, die sich für Besuche auf den Märkten einkleiden. Auch Mitglieder der mittelalterlichen Gruppen und Vereine Magdeburgs - Liesegang schätzt, es gibt mehr als ein Dutzend – kommen, genau wie Veranstalter und Leute, die sich für Motto-Partys ausrüsten. „Außerdem haben wir Paare, die im Mittelaltergewand heiraten.“

André Liesegang ist auch privat in der Szene unterwegs. Eine seiner Erklärungen für die wachsende Begeisterung: „Filme und Serien wie ‚King Arthur‘ oder ‚Vikings‘ haben bei vielen Interesse für Schwertkämpfe und Rüstungen geweckt.“

An drei Tagen über 25.00 Besucher: Torsten Fraß ist mächtig stolz darauf, wie sich das Kaiser-Otto-Fest entwickelt hat. Immerhin kamen bei der ersten Auflage vor sechs Jahren noch 7000 Leute weniger. Fraß ist Veranstalter des Mittelalterspektakels, das sich immer im September im Magdeburger Domviertel abspielt. Überall Ritterturniere, Festumzüge, Bühneninszenierungen zur Stadtgeschichte. Alles vor historischer Kulisse, zum Beispiel mit Teilen der alten Stadtmauer. Das kommt an.

Auch das zweite große Mittelalterfest in Magdeburg wächst immer weiter: das Spectaculum Magdeburgense. Inzwischen kommen an den fünf Tagen in der Pfingstzeit 12.000 Besucher. Aus Platzgründen musste der Verein, der das Fest organisiert, sogar einen neuen Veranstaltungsort in der Stadt suchen. Die Einfachheit im Mittelalter, glaubt Torsten Fraß, fasziniert die Menschen. Man brauchte kein Handy, kein Navi. Doch nicht nur das: „Damals herrschte große Brutalität vor – da war schnell mal der Kopf ab. Dieses Düstere zieht viele in ihren Bann.“