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Kulturprojekt "Villa Wertvoll" für Kinder und Jugendliche

Simon Becker und sein Verein schaffen Alltags-Oasen zum Ausruhen und für gemeinsame Zeit in Magdeburg.

Von Manuela Bock 06.05.2018, 01:01

Magdeburg l Die Villa im Magdeburger Stadtteil Neue Neustadt ist groß und leer. In einigen Räumen stehen bereits Möbel der nächsten Bewohner. Schränke, Teppiche, Sofas hat Simon Becker hier abgestellt. In seinem Kopf ist die gelbe Villa bereits frisch gestrichen, aufgemöbelt. Er sieht das neue Tonstudio und die Café-Ecke. Wie Kinder und Jugendliche Musik machen, plaudern und wie sie in Workshops arbeiten. Simon Becker hat eine Vision von einem neuen Kinder- und Jugendkulturprojekt in der „Villa Wertvoll“, wie das Haus bereits getauft ist. Und diese Vision packt der Wahl-Magdeburger mit dem Verein „Sunrise“ an, dessen Gründer und Vorstandsmitglied er ist. Visionen in die Realität zu verwandeln, zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben.

Der gebürtige Kieler ist ein „Strandkind“, wächst mit vier Geschwistern und drei Pflegegeschwistern in einer großen Familie auf, die viel musiziert und den Glauben an Gott pflegt. „Meine Eltern haben mir früh beigebracht, positiv zu denken und nach den christlichen Werten zu leben“, sagt er. Die großen Ferien verbringt Simon Becker häufig in einer kirchlichen Einrichtung, die Jugendcamps organisiert. Das Domizil, ein Schloss am Starnberger See, ist für den Jugendlichen „eine Oase“, die ihn geprägt hat. Als er später als Betreuer dort arbeitet, sieht er einen „coolen“ 15-Jährigen vom Balkon auf See und Berge blicken und hört ihn sagen: „Ist das schön hier.“ „Das“, meint Simon Becker, „war eine Schlüsselszene für mich“. Solche Erlebnisse möchte er den Menschen schenken, „ruhige Oasen“ schaffen, wenn die Wellen des Alltags hochschlagen.

Das passt zu seinen Zielen, die er sonst noch hat. „Ich wollte immer in der kirchlichen Jugendarbeit arbeiten und das möglichst mit Musik verbinden“, erinnert sich der 36-jährige Klavierspieler. Während des Studiums lernt er seine Frau Bettina kennen – eine Gleichgesinnte, wie er sie nennt. Nach einem Jahr als Musiker und Predigerin im Rheinland, stellen beide fest, „dass es Zeit wird, die Weichen zu stellen“. „Wir standen vor der Wahl“, sagt Simon Becker. „Entweder wir machen die nächsten Jahre so weiter oder wir wagen etwas Neues.“

Sie entscheiden sich für den Neuanfang. Becker: „Nachdem wir jahrelang auf kleinen Dörfern gelebt hatten, zog es uns in die Großstadt.“ Nach langem Überlegen blieben zwei Städte in der engeren Auswahl: Berlin und Magdeburg. Beide fahren mit einem Jobangebot zunächst in die Hauptstadt, doch stellen sie fest: „Das kribbelt hier nicht, die Stadt reizt uns überhaupt nicht.“ Als ihnen zur selben Zeit zwei ehemalige Kommilitonen von Magdeburg vorschwärmen, sind sie skeptisch.

„Magdeburg war für uns ein weißer Fleck auf der Landkarte“, gesteht Becker. Sie „schleichen“ sich heran, nähern sich der Stadt über die Autobahn 14, sehen die Elbe und ihre Ufer, genießen die Sonne in einem Eiscafé. Als sie bei den Freunden einkehren, haben ihre monatelangen Überlegungen ein Ende gefunden „Wir wussten, dass wir es genau hier versuchen möchten“, erinnert er sich „Es war vor allem dieses Unfertige, das uns fasziniert hat. Wir hatten das Gefühl, dass hier viel möglich ist.“

Sie brechen alle Zelte im Rheinland ab, suchen sich eine Wohnung, machen sich selbstständig. Simon Becker arbeitet als Musiker, seine Frau als Referentin und angehende Theaterpädagogin. Sie treten in Vereine ein, gehen auf die Menschen zu, knüpfen Kontakte. „Eine wilde Zeit war das“, so Simon Becker. Die Familie und Freunde erklären: „Macht etwas, was immer es ist, wir unterstützen das gerne – auch mit Geld“, erinnert er sich und lacht dabei. Also gründen sie 2007 den Verein „Sunrise“ – Sonnenaufgang – benannt nach einem Projekt, das Bettina Becker einst im Westerwald für Prostituierte gegründet hat. Die tragende Farbe ist gelb, über dem Logo strahlt die Sonne.

Mit fünf Gleichgesinnten schreiben sie in die Satzung, dass sie kirchlich, diakonisch und kulturell arbeiten möchten. Mehr Vorgaben gibt es nicht. „Wir wussten nur, bei uns soll es um die Menschen gehen, weil jeder wertvoll und bei Gott willkommen ist“, erklärt Becker. „Wir sehen Sunrise als Basis für verschiedene Projekte. Wenn jemand der Stadt oder Menschen Gutes tun möchte, ist er bei uns grundsätzlich richtig.“

Ein Zufall bringt das erste Projekt ins Rollen. Bei einem Konzert im Jugendzentrum „Knast“ im Stadtteil „Neue Neustadt“ fragen ihn Jugendliche, ob er nicht Lust hätte, mit ihnen Fußball zu spielen. Simon Becker, leidenschaftlicher Werder-Bremen-Fan, hat Lust. Daraus wächst das Projekt „1. FC Knast 09“. Dass es einen Verein gibt, der allen möglichen Projekten ein Dach gibt, spricht sich schnell herum. So wird es immer bunter, verrückter bei „Sunrise“. Simon Becker sagt: „Damals war die Abenteuerlust ein großer Faktor. Wir wussten, dass wir über eine wacklige Brücke gehen, ohne zu wissen, ob sie hält.“ Sie hält.

„Sunrise“ in Magdeburg sei damals ein „großer, wilder Garten“ gewesen, meint Simon Becker. „Wir konnten lange nicht erklären, was wir eigentlich machen, weil es kreuz und quer ging, wir haben meist instinktiv gehandelt.“ Dann gehen sie mit der „Gartenschere“ heran, sortieren sich. Im Jahr 2014 sprechen sie erstmals von Projekten und Projektleitern, sehen sich als kleines Unternehmen.

Die meisten Vorstandsmitglieder sind über Deutschland verstreut, glauben aber an den Verein in Magdeburg. Dessen Portfolio ist inzwischen so bunt wie groß. Ein Kindertheaterprojekt gehört dazu, genau wie die praktische Hilfe für obdachlose und bedürftige Menschen und Vortragsabende im Schauspielhaus. Oder die Veranstaltungsreihe „Church goes Pub“, wo sich Studenten in Kneipen „auf ein Bier mit Gott“ begeben. Arbeit für Flüchtlinge, Konzerte, Theater … nichts ist richtig groß, aber auch nicht zu klein. Selbst auf Mallorca, wo Engagierte nachts „Schnapsleichen“ aufsammeln, strahlt die Sonne von „Sunrise“. „Man kann ruhigen Gewissens sagen, dass wir ein Pool von Abenteurern sind, die sonst nirgendwo unterkommen“, so Becker. „Das ist auch so ein roter Faden, das alles sind Menschen, die sich auf mehr als nur eine Sache konzentrieren möchten.“ Genau wie er selbst.

Inzwischen hat „Sunrise“ drei Angestellte, der Leitungskreis knüpft Kontakte zu den Interessierten. Da die Kapazitäten des „Homeoffice“ der Familie Becker, zu der nun auch drei Kinder zählen, längst nicht mehr ausreichen, mieten sie einen großen Raum, der Gruppen auch als Trainings- und Auftrittsort zur Verfügung steht. Eine schrille Vereinsstätte ist das, wo das Improtheater probt, „Saddest Song-Contests“ stattfinden. „Wir sind hier wie ein Schwarm, alles ist lebendig und in Bewegung“, meint der „Sunrise“-Mitbegründer.

Jetzt hat der Schwarm ein neues gelbes Ziel vor Augen. Die „Villa Wertvoll“ ist für den Verein und für Simon Becker, der sich zugleich als Musiker und Sozialarbeiter sieht, „der nächste logische Schritt“. Im Stadtteil, wo durch Fußball erstmals eine Brücke zu Jugendlichen gebaut wurde, soll ein Haus entstehen, in dem man künstlerische Fähigkeiten in einem sicheren Rahmen entdecken und entfalten kann, so beschreibt es Simon Becker.

Es sind wieder Freunde, auf die der Funke überspringt. Als einer von ihnen bei der Suche nach Räumen auf die gelbe Villa im Stadtteil stößt, können sie es kaum glauben. Große Räume, ein Garten, gut erreichbar – und als Vermieter die Diakonie. „Es ist, als hätte das Haus auf uns gewartet“, so Becker. Der Finanzplan steht. Jetzt sind sie dabei, das Geld dafür zu akquirieren. Im März setzten sie zu den ersten Pinselstrichen an. Viele Neugierige schauen schon und fragen, was hier entstehen soll. Sie knüpfen Kontakte zu Kindergärten, Vereinen und Schulen, aber auch zu potenziellen Sponsoren. Eigentlich zu allen, die dazu beitragen können, dass die „Villa Wertvoll“ wie geplant ab 2019 zu wöchentlichen Workshops wie Kindertheater oder Bandcoaching einlädt. Wo das Tonstudio öffnet, wo Jugendliche eigene Songs schreiben oder Theaterstücke entwickeln. Im September soll Einweihung gefeiert werden.

Die Liste ist lang, auf der steht, wer helfen möchte. Das ist Balsam für die Seele von Simon Becker, der grundsätzlich an das Gute glaubt. „Dieser Ort soll für Ruhe und Schönheit stehen.“ Letztlich soll er die Oase werden, die er damals im Herzen vom Starnberger See mitgenommen hat. Beim Abschließen der Villa-Tür sagt Simon Becker: „Es wäre traumhaft, wenn auch auf unserem Balkon bald Jugendliche stehen und genießen, wie schön es hier ist.“