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Vor 100 Jahren Tote durch explodierende Sauerstoffflasche

Das Herzogtum Anhalt und die preußische Provinz Sachsen waren im Mai 1918 von Kriminalität, Unglücke und Streitereien gezeichnet.

Von Manfred Zander 21.05.2018, 12:03

Magdeburg l Der April hatte sich mit einem Wolkenbruch verabschiedet. In Domersleben verdarb er den Dorfbewohnern gründlich die Vorfreude auf den herannahenden Frühlingsmonat, sollte sie angesichts der Kriegssorgen überhaupt vorhanden gewesen sein.

„Die Wassermassen haben sich meterhoch in die Straßen und Gehöfte ergossen, alles mitreißend, was nicht niet- und nagelfest war“, blickte die Volksstimme am 3. Mai zurück. Die Saaten in der Feldmark seien vernichtet worden, die Felder völlig verschlammt, so dass eine Neubestellung erfolgen müsse. „Hausrat, Betten, Kohlen, Eingeschlachtetes schwamm in dem wilden Wasser ... Kühe, Ziegen, Hühner, Schweine, Kaninchen sind ertrunken, der Kartoffelvorrat verdorben.“

Redaktionschef Ernst Wittmaack hatte andere Sorgen. Er grübelte an seinem Artikel vom 5. Mai. Den Anlass bildete der 100. Geburtstag von Karl Marx. Sogar ein Bildnis des Philisophen hatte Wittmaack für das sonst bilderlose Titelblatt der Volksstimme vorbereiten lassen. Wie noch einmal hundert Jahre später wurden die Würdigung und der zu Würdigende selbst angefeindet. Auch dafür hatte Wittmaack eine Bemerkung bereit: „Wie falsch, wie kleinlich wäre es, in dem Werke von Marx nur eine Sammlung von Lehrsätzen zu sehen, mit deren Bewährung oder Nichtbewährung der Meister steht und fällt.“

In Magdeburg wurde Marx dann gleich zweimal gefeiert. „Ernst und stimmungsvoll“ sei es in der Gaststätte „Reichskrone“ beim Sozialdemokratischen Verein zugegangen, meinte die Volksstimme, während bei den Unabhängigen im „Werderschlößchen“ Ruhe und Andacht von den „sehr zahlreichen Kindern unter der Zuhörerschaft“ gestört gewesen sei.

In der Saalestadt Halle führte der Streit zwischen beiden Strömungen der Sozialdemokratie im gleichen Monat sogar vor die Schranken des Landgerichtes. Zankapfel war die Parteizeitung Volksblatt.

Zwei der drei Geschäftsführer waren den Unabhängigen beigetreten. Der verbliebene Geschäftsführer Herzig erklärte daher das Mandat seiner beiden Kollegen für erloschen und berief zwei andere SPD-Genossen in die Leitung. Das wurde gerichtlich rückgängig gemacht. Daraufhin wurde nun Herzig von seinen Ex-Partnern aus dem Boot geworfen. Sie eigneten sich die Schlüssel und Geschäftsbücher an und setzten einen Unabhängigen an Herzigs Stelle ein. Das wurde vom Landgericht ebenfalls für rechtswidrig erklärt. Bis zur Erledigung des Prozesses solle alles beim Alten bleiben. Anderenfalls drohe eine Geldstrafe an. Der Krieg um das Volksblatt konnte weitergehen.

Die Justiz in der Provinz und in Anhalt stehe unter Hochdruck, meinte die Volksstimme. Besonders Diebstahlsprozesse würden die Gerichte mehr denn je beschäftigen. Allein am 3. Mai hätte das Landgericht in Magdeburg in verschiedenen Verfahren gegen Hühnerdiebe, einen Treibriemendieb und mehrere Lebensmittel- und Textildiebe verhandeln müssen.

In der Residenzstadt Dessau begann am 14. Mai ein mit Spannung erwarteter Prozess. Angeklagt war der Stadtangestellte Karl Sturm. Gemeinsam mit Oberstadtsekretär Kampfhenkel – er hatte inzwischen Selbstmord begangen – unterschlug er Wertgegenstände und mindestens 60.000 Mark. Die Richter verurteilten den 30-Jährigen zu zweineinhalb Jahren Gefängnis und drei Jahren Ehrverlust.

Auch fernab der Front wurde der Mai zu einem blutigen Monat.

Eine Katastrophe ereignete sich am 28. Mai in einem Bitterfelder Rüstungsbetrieb des hessischen Unternehmens Griesheim-Elektron. Ausgelöst wurde das Unglück durch eine explodierende Sauerstoffflasche. Neun in der Nähe arbeitende Arbeiter wurden dadurch getötet, weitere sieben kamen schwer verletzt in das Krankenhaus.

Vier Tage zuvor kam es am Magdeburger Stadtrand zu einer Tragödie. Der Feldhüter Gottschalk hatte auf dem Elbdamm zwischen Cracau und Prester einen Mann beim Wildern erwischt. Der Wilderer eröffnete das Feuer und verwundete Gottschalk schwer. Johann Kostecki, ein zu Hilfe eilender Kutscher des Landwirts Böse aus Prester, wurde durch einen Schuss in die Brust getötet. Schließlich flüchtete der Wilddieb in die Elbe, wo er in der Flussmitte ertrank. Der Tote wurde einige Tage später an der Rotehorn-Spitze angetrieben und als Ludwig Schulz aus Neuhaldensleben erkannt. Seine Beute hatte er dort liegen gelassen, wo er in die Elbe gesprungen war - ein toter Hase.

Eine weitere Bluttat wurde nur durch das beherzte Eingreifen des Postschaffners Göhring im letzten Augenblick verhindert. Er war mit Fischen an der Elbe beschäftigt, als er in der Nacht zum 26. Mai am Deich zwischen Hämerten und Elbbrücke ein Pärchen kommen sah. Als die junge Frau plötzlich um Hilfe rief, sei Göhring ihr sofort zu Hilfe gekommen, berichtete später das Stendaler Intelligenz- und Leseblatt. Der Täter habe sich entdeckt gefühlt und sei querfeldein geflüchtet. „Das Mädchen wurde blutüberströmt mit fünf Messerstichen im Kopf am Elbdamm aufgefunden und zur Brückenwache gebracht, wo es verbunden wurde.“

Wie die Zeitung berichtete, war das Mädchen in Berlin von dem jungen Mann überredet worden, mit ihm zu seinen Eltern nach Fischbeck zu fahren, um eine Kriegstrauung mit dem angeblichen Unteroffizier einzuleiten. Der falsche Bräutigam wurde in Rathenow verhaftet und als der wegen Mordversuchs vorbestrafte Schneidergeselle Läsecke aus Berlin enttarnt.

Trotz der alltäglichen Sorgen, Nöte und Grausamkeiten schickte die Volksstimme ihre Leser am 19. Mai mit dem Wunsch ins Pfingstfest, sich am Leben zu erfreuen. „Sorgen und den Schmerz tragen wir genug durch unsere Tage und können uns ihrer kaum entledigen ... Wir aber gehören dem Leben ... Und Freude ist Leben“.

Generalleutnant Leo Sontag, stellvertretender kommandierender General des 4. Armeekorps, hatte bereits am 10. Mai mit einer Bekanntmachung zu heftigen pfingstlichen Freudengenüssen vorgebeugt: „Die Abhaltung oder Duldung von Tanzvergnügen oder ähnlichen dem Ernste der Zeit widersprechenden Lustbarkeiten auch nichtöffentlicher Art in fremden oder überlassenen Räumen ist verboten. ... Zuwiderhandlungen werden mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft“.

Auch die Benutzung von Pferden zu Pfingsfahrten wurde von ihm untersagt. Die Tiere würden zu kriegswichtigen Leistungen benötigt. Schon tags zuvor hatte die Königliche Eisenbahndirektion in Magdeburg gemahnt: „Unternehmt keine Pfingstreisen!“

Dennoch wurden die Pfingsttage genossen. „Eine strahlende Sonne, ein wolkenloser Himmel und eine Durchschnittstemperatur von 22 Grad Reaumur (27,5 °C, d. Verf.) , kein Wunder, wenn alles, was kriechen konnte, hinauszog zu dem üblichen Pfingstbummel“, berichtete die Volksstimme.

Wer wollte, hatte die Qual der Wahl unter allerlei nicht „dem Ernste der Zeit widersprechenden Lustbarkeiten“, Kino, Theater und Konzert: „Rasputin“ in den Zirkus-Lichtspielen in Magdeburg, Militär-Frühkonzert an der Salzquelle oder im Viktoria-Theater-Garten, Garten-Konzert im „Jägerhof“ in Grünewalde, Wohltätigkeits-Vorstellung im Hohendodeleber Lokal des Herrn A. Coerdt, Film „Der lebendige Tote“ im Palast-Theater Burg, „Die Fledermaus“ im Wilhelm-Theater und „Die Czardasfürstin“ im Zentraltheater.

Das Leben hätte im Mai 1918 schön sein können, wenn nicht Krieg gewesen wäre, und die fehlende Antwort auf eine bange Frage eines ukrainischen Bauern an einen deutschen Soldaten. Die Volksstimme titelte mit ihr am 22. Mai die erste Seite: „Wo bleibt Fridde?“