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Waldorfschule Mehr als Namen tanzen

Vor 100 Jahren wurde die erste Waldorfschule gegründet. Eine Schulform, die mit Vorurteilen kämpft, aber immer beliebter wird.

03.09.2019, 23:01

Thale l „So, dann kreisen wir mal alle die Schuuuultern.“ Links, rechts, dann wieder von vorn. Abwechselnd zeichnet Lehrer Markus Timmler mit seinem Armen Kreise in die stickige Luft. Es ist warm – und laut. Schüler reden, einige kämpfen Kraft ihrer Fantasie mit den Superkräften bekannter Comic-Helden. Das Rauschen von Kinderstimmen dominiert. Leben. In der Unruhe bewegt sich Timmler erstaunlich entspannt. „Jetzt die Hüfte dreeeheen“, setzt der 49-Jährige das kurze, den Schülern bestens bekannte Bewegungsprogramm fort. Ungeachtet der Unruhe. „Guten Mooooorgen, liebe 3. Klasse“, ruft er in den Klassenraum. Das Rauschen verstummt, ein „Guuuuten Moooorgen, lieber Herr Tiiimmmler“ schallt ihm entgegen. Es ist kurz nach 8 Uhr, Unterrichtsbeginn in der Waldorfschule Harzvorland in Thale.

Hier lernen 189 Kinder, von der ersten bis zur achten Klasse werden sie vom gleichen Klassenlehrer betreut, die letzten vier Jahre steht der Fachunterricht im Fokus, die Vorbereitung auf den Abschluss. Für Timmler und seine 3. Klasse bedeutet das weitere fünf Jahre zusammen. Täglich haben die Schüler zunächst zwei Stunden „Klassenlehrer-Unterricht“ bei ihm, bevor es dann mit Englisch, Musik, Sport oder anderen Fächern weitergeht. „Dadurch baut man zu den Schülern eine sehr persönliche Bindung auf und verfolgt die Persönlichkeitsentwicklung mit“, sagt Timmler. Eine wichtige Säule des Konzepts Waldorfschule.

Soziale Fähigkeiten werden hier genauso großgeschrieben wie der Lernfortschritt. Neben Mathe, Deutsch und Englisch, dem sachbezogenen Unterricht, nehmen künstlerische und handwerkliche Fächer einen großen Stellenwert ein.

Auf Noten wird in der Unter- und Mittelstufe verzichtet, sie werden durch Beurteilungen ersetzt. „Unsere Lehrer unterrichten nicht nur, um Stoff zu vermitteln. Sie vermitteln Lehrstoff vor allem, um zu erziehen“, fasst Geschäftsführer Christward Buchholz, der die Partnerschulen in Magdeburg und Thale leitet, das Konzept zusammen. Liederbücher liegen auf dem Tisch, gerade haben Finn und die anderen 19 Schüler die Blockflöte zur Seite geräumt. Musikalisch geht es aber weiter. Timmler zupft die erste Saite seiner Gitarre an, der Kinderchor stimmt ein: „Jeden Morgen geht die Sonne auf. In der Wälder wundersamer Runde.“ Jedes Kind singt, einige bewegen sich rhythmisch im Takt, den Timmler mit seinem instrument vorgibt. „Ich mag Herrn Timmler, er ist immer freundlich und nett zu uns“, sagt der achtjährige Arthur Müller.

Timmler lacht viel und gern. Seine Stimme wird an diesem Donnerstagmorgen nur einmal laut. „Jetzt aber bitte mal etwas konzentrieren.“ Stille. Für einen kurzen Augenblick. Timmler spricht nicht zu seinen Schülern, sondern mit ihnen. In seinen Sätzen dominiert das „Wir“ („Welches Lied wollen wir denn jetzt singen?“; „Haben wir das eigentlich schon gemacht?“). Auf Augenhöhe statt von oben herab. Das ist so gewollt, das ist das Konzept, und das ist auch ein Stück weit Timmlers Überzeugung. Seine Frau unterrichtet ebenfalls an der Waldorfschule in Thale, auch seine drei Kinder lernen hier fürs Leben. Der gebürtige Hannoveraner besuchte selbst eine Waldorfschule, unterrichtete später in Frankfurt (Oder), bevor er mit seiner Familie 2007 in den Harz zog. Waldorfschule als Kind, als Lehrer und als Vater. Die Klischees, die kennt er wie kaum ein anderer. „Klar, das hört nie auf“, sagt er. „Es gibt immer noch die Vorurteile, dass an Waldorfschulen nur Förderschüler sind, hier nur gesungen und geklatscht wird, nur Namen getanzt werden und all solche Dinge.“

Dabei können Waldorfschüler die gleichen Abschlüsse wie Schüler anderer Bildungseinrichtungen erwerben. 24 der insgesamt 81 Schulabgänger in Sachsen-Anhalt legten 2018 ihr Abitur ab, die große Mehrheit der Heranwachsenden den Realschulabschluss (54 Schüler). Von Jahr zu Jahr entscheiden sich immer mehr Eltern, ihr Kind an einer Waldorfschule unterrichten zu lassen. Das belegen Zahlen vom Statistischen Landesamt. So besuchten 2018 in Sachsen-Anhalt 1065 Schüler eine der drei Waldorfschulen im Land. 2011 waren es nur 685 Schüler.

Der viel zitierte Lehrermangel, der an allgemeinbildenden Schulen herrscht, ist hier kein Thema – noch nicht. „Wir merken zwar, dass es immer schwerer wird, Lehrer zu gewinnen“, sagt Waldorf-Lehrer Joachim Rang, der seit zwei Jahren in Thale unterrichtet. „Aber vom Unterrichtsausfall sind wir nicht betroffen, da gibt es eine klare Einteilung von Vertretungslehrern.“ Nur im Ausnahmefall, wenn eben mal fünf Kollegen gleichzeitig krank sind, komme es auch in Thale zum Ausfall von Stunden.

Da das Angebot in Sachsen-Anhalt begrenzt ist, haben Eltern erst im Frühjahr 2018 einen neuen Verein gegründet. Mit dem Ziel, auch in Dessau eine Waldorfschule aufzubauen. Im April wurde dazu ein Schulgelände in Mosigkau gepachtet, im Juli erkannte das Landesschulamt den Standort offiziell als Schule an. Anfang August ist hier der Unterricht gestartet.

Deutschlandweit werden nach Angaben des Bunds der Freien Waldorfschulen mehr als 87 700 Kinder und Jugendliche an 245 Waldorfschulen unterrichtet. Während die Zahl der allgemeinbildenden Schulen in Sachsen-Anhalt sinkt, steigt die Zahl der Schulen in freier Trägerschaft. Rund 9,7 Prozent aller Kinder im Land lernen an einer privaten Schule – wie etwa einer Waldorfschule. Und wie in Dessau, sind es hier immer wieder Eltern, von denen die Initiative ausgeht. „Klar, es gibt auch bei uns Eltern, die ihre Kinder am Morgen nur abliefern“, sagt Buchholz. „Aber die meisten sind mit sehr viel Engagement dabei, wollen aktiv am Schulalltag teilhaben. Und entgegen den Vorurteilen, dass nur besser situierte Eltern ihre Kinder auf eine Waldorfschule schicken, haben wir alle sozialen Schichten vertreten.“ Erstmals hat die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft 2018 eine repräsentative Umfrage unter rund 3500 Waldorf-Elternteile durchgeführt. Das Ergebnis: Verglichen mit Eltern, deren Kinder andere Schulen besuchen, ist die Einkommenssituation bei Waldorf-Eltern nicht besser. Für einen Schulplatz in Thale oder Magdeburg müssen Eltern monatlich für das erste Kind bis zu 220 Euro, maximal aber sechs Prozent des Netto-Einkommens zahlen. Für das zweite Kind werden 55 Euro fällig. Zwar erhalten die Waldorfschulen eine Finanzhilfe vom Land, jedoch muss der Schulträger einen Eigenanteil aufbringen. Gedeckt wird das durch die Elternbeträge.

Es ist 9.25 Uhr. „So, bitte wieder Arbeitsstille“, sagt Timmler, während er gerade eine Baumkrone an die Tafel zeichnet. Es ist wieder laut. 40 Kinderhände sind mit Wachsmalfarbe bedeckt. Einige zeichnen, andere drehen sich zu ihrem Banknachbarn. „Philipp, da fehlt aber noch was auf deinem Bild“, sagt Timmler zu seinem Schüler in der ersten Reihe, dreht sich dann zur Klasse. „Ihr habt jetzt noch knapp 15 Minuten. Wer es nicht schafft, muss sein Bild dann zuhause fertig malen.“