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Weihnachtszeit Einsamkeit in der Pandemie

Nach 52 Jahren Ehe muss ein Magdeburger krankheitsbedingt in eine Einraumwohnung ziehen. Wie hat das sein Leben verändert?

Von Alexander Walter 24.12.2020, 00:01

Magdeburg l Auf dem Holztisch des kleinen Appartements von Jürgen Wieland steht ein Foto von ihm und seiner Frau Rosemarie. Es zeigt ein lächelndes älteres Paar. Die beiden sehen glücklich aus – so könnte man sagen, ohne dass man dabei übertreiben würde.

Es ist ein Bild aus besseren Tagen. Seit kurzem ist für den schlanken Herrn mit kurzem grauen Haar vieles nicht mehr, wie es war. Zwei Herzinfarkte, zwei Lungenembolien hat er überstanden, erzählt er. Und dann hat er auch noch die Lungenkrankheit COPD. „Ich habe überall hier geschrien", sagt Wieland.

Die Angst um seine Gesundheit bewog ihn und seine Frau im Frühling zu einer schwerwiegenden Entscheidung: Nach 52 Jahren Ehe musste er die gemeinsame Wohnung im Süden von Magdeburg verlassen.

Stattdessen lebt er seit März allein in einer Einraum-Wohnung des ambulanten Dienstes „Humanas", 15 Autominuten entfernt im Nordosten der Stadt. Das ist ein Stück weg von zu Haus, aber das betreute Wohnen war wegen der vielen Vorerkrankungen notwendig, sagt der Rentner. Das Appartment liegt nur wenige Minuten vom Klinikum Magdeburg entfernt. Das war den Eheleuten wichtig. So sei er im Notfall schnell beim Arzt, sagt Wieland. In der Nacht braucht er außerdem eine zusätzliche Sauerstoff-Zufuhr. Seine Frau kommt ihn dennoch, so oft sie kann, besuchen. „Sie ist mein wichtigster Bezugspunkt, ich stehe zu ihr und sie zu mir", sagt Wieland.

Nicht immer waren die Besuche in diesem Corona-Jahr allerdings ohne Weiteres möglich: Im März zum Beispiel, erinnert sich Wieland. Damals sei ihm gesagt worden, dass es besser wäre, wenn seine Frau erstmal nicht kommt. „Das hat schon wehgetan", sagt Wieland.

Inzwischen habe sich das aber geklärt. „Im Frühling herrschte viel Unsicherheit bei allen Pflegeeinrichtungen", sagt Humanas-Sprecher Fabian Biastoch. Dazu beigetragen habe, dass neue Verordnungen des Landes oft kurzfristig gekommen seien und der Inhalt nicht allen Mitarbeitern immer gleich bekannt gewesen sei.

Doch was heißt es, mitten im Lockdown dieser zweiten Welle der Pandemie als älterer Mensch plötzlich weitgehend allein zu leben? Wie fühlt es sich an in einer Vorweihnachtszeit, die wegen des Lockdowns in der Corona-Pandemie nochmals stiller ist als ohnehin?

Er fühle sich eigentlich wohl in der Anlage, sagt Wieland an diesem Morgen kurz vor Weihnachten in seinem Zimmer. Eines seiner Fenster hat er mit einer gebastelten, roten Girlande geschmückt. Am anderen hängt ein kleiner Weihnachtsbaum aus Papier. In seinem großen, grauen Sessel liest Wieland jetzt viel, erzählt er. „Mein Lieblingsautor ist Lee Child, kennen Sie den?", fragt der Magdeburger.

In der Wohnanlage hat der Rentner Verbündete inzwischen gefunden. Da gibt es den Hund „Mitch", der einem Pfleger gehört. „Von allen Bewohnern bekommt der was", sagt Wieland.  Mit zwei Bewohnern spielt er regelmäßig „Mensch, ärger dich nicht". „Das ist zwar irgendwie ein beklopptes Spiel, aber wir spielen es trotzdem, sobald die Möglichkeit besteht. Oft von morgens bis nachmittags", sagt Wieland.

Das sind die guten Phasen. Doch es gibt eben auch die anderen – die dunklen.  Da sind  Stunden, in denen auch Einsamkeit nach oben kriecht: „Wenn man allein ist, hat man Zeit, nachzudenken. Dann schleichen sich schon mal schlechte Gedanken ein. Das reißt einen runter. Manchmal muss ich weinen", sagt der ältere Herr.

Ihm fehlen vor allem Abläufe zu Hause, sagt er: Zusammen in die Fernsehzeitung zu schauen, abends im Wissen, dass da jemand ist, einzuschlafen.  Manchem dürfte es ähnlich gehen in diesen Tagen. In jedem Fall sind viele Menschen allein. Viele, deren Sorgen unerzählt bleiben, die allein in Zimmern sitzen oder liegen. Und zumindest zeitweise niemanden zum Sprechen haben.

Nach Angaben des Statistischen Landesamtes gibt es in Sachsen-Anhalt etwa allein 688 stationäre Pflegeeinrichtungen mit mehr als 30.000 Plätzen. Gut 29.000 Menschen wurden zuletzt tatsächlich stationär betreut.

Jürgen Wieland hat da Glück. Seine Einrichtung ist keine stationäre. Der ambulante Dienst vermietet Wohnungen in Wohnparks und bietet dazu – nur auf Wunsch – pflegerische und betreuerische Versorgung an. „Im Übrigen sind die Bewohner selbständig und selbstbestimmt, das ist uns wichtig", sagt Sprecher Biastoch.

Es ist zugleich ein Konzept, für das trotz Corona noch vergleichsweise lockere Auflagen gelten. Und so kann Jürgen Wieland auch jetzt zumindest prinzipiell Besuch empfangen, wann und von wem er möchte. In Heimen ist das längst nicht mehr der Fall.

Nach den aktuellen Corona-Regeln in Sachsen-Anhalt (abrufbar online: hier) können Bewohner von Pflege- oder Behinderteneinrichtungen auch jetzt in der Weihnachtszeit nur einmal täglich Besuch von einer Person empfangen.

Die Einrichtungsleitung legt die Besuchsregeln fest. Jeder Gast muss einen negativen Corona-Antigen-Test nachweisen, der nicht älter als 48 Stunden ist.

Solche Auflagen gibt es bei Jürgen Wieland nicht. In der Wohnanlage wird anlassbezogen getestet, sagt Fabian Biastoch. „Auch wir appellieren allerdings an die Angehörigen, nur zu kommen, wenn sie völlig symptomfrei sind."

Auch wenn es zwischendurch ruhiger wurde – seit seinem Einzug war das Virus auch in der Wohnanlage von Jürgen Wieland ständig präsent. „Wir unterhalten uns fast täglich darüber", sagt der Magdeburger, der mit seinen Vorerkrankungen zur Risikogruppe für schwere Verläufe zählt.

„Ich verstehe nicht, wie Menschen sagen können, das mit diesem Virus sei alles nicht so schlimm, und dann bei Demonstrationen auch noch ihre Kinder vorschicken." Diese Leute sollten sich überlegen, was sie mit ihrem Handeln sich und anderen antun können, sagt der 72-Jährige. 

Trotz Corona und Auszug von zu Hause: Heiligabend muss Jürgen Wieland auch in diesem Jahr nicht allein verbringen. „Dann bin ich zu Hause. Es gibt Bescherung mit den Enkelkindern im Familienkreis", erzählt er. Auch am zweiten Feiertag geht es nach Hause.

„Es gibt Braunkohl, mein Lieblingsessen", sagt Wieland. Übernachten muss er trotzdem in der Anlage. Der Magdeburger ist nachts wegen seiner Lungenerkrankung auf Sauerstoff-Zufuhr angewiesen.

Auch den ersten Feiertag wird er wohl ohne Familie verbringen müssen. 

Was wird er dann tun? Ganz ohne Gesellschaft werde er nicht sein, sagt der Rentner. An allen Festtagen gibt es ein Weihnachtsessen. Wieland freut sich darauf und auf die Vorbereitung. Sein Kartoffelmesser hat er bei seinem Umzug mit in die neue Wohnung nach Olvenstedt gebracht. „Damit helfe ich den Mitarbeitern beim Schälen", erzählt er. Und es gebe ja auch noch den Fernseher. Wieland schaut gern MTV.

Am Ende holt Wieland doch noch ein Anflug von Traurigkeit ein, die aber überspielt er mit einem Blick zurück:

„Ich war 25 Jahre lang Kraftfahrer, später habe ich im Vierschichten-System Kesselanlagen gefahren", sagt er. „Da ist man das Alleinsein zu Weihnachten gewohnt."