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Zweiter Weltkrieg Hinweise auf NS-Raubgut in Bibliotheken

Museen und Universitätsbibliotheken suchen nach NS-Raubgut in ihren Beständen. In Sachsen-Anhalt haben sie Hilfe bekommen.

13.03.2018, 07:24

Magdeburg (dpa) l Als sie den Namen handschriftlich in dem kleinen Buch fand, klopfte Elena Kiesel das Herz bis zum Hals. "Ich habe mich erstmal sehr gefreut", sagt die junge Historikerin. Hunderte Bücher hat sie in die Hand genommen, Akten gewälzt und Namen abgeglichen. Dann lag ein Hinweis auf NS-Raubgut in ihren Händen. Kiesel gehört zu einer kleinen Gruppe Historikerinnen, die ab Sommer 2017 in fünf Bibliotheken in Sachsen-Anhalt nach Büchern gesucht haben, die ihren ursprünglichen Besitzern entrissen wurden.

Sachsen-Anhalts Landesverband der Bibliotheken hat diesen bundesweit ersten Erstcheck in fünf Einrichtungen in Magdeburg, Dessau-Roßlau, Wernigerode, Sangerhausen und Zerbst initiiert. Finanziert wurde das Projekt vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste, das seinen Sitz in Magdeburg hat. "Die kleinen Bibliotheken sind damit komplett überfordert, solche Provenienzrecherchen zu übernehmen", sagt die Leiterin der Magdeburger Stadtbibliothek, Cornelia Poenicke. Es fehle das Know-how und auch das Personal. In ihrem Haus lagern 80.000 Bücher aus der Zeit von vor 1945.

Der Erstcheck soll klären, ob es Anhaltspunkte für NS-Raubgut gibt und weitere Recherchen nötig sind. Große Bibliotheken wie etwa die Universitätsbibliotheken sind schon lang auf der Suche nach NS-Raubgut in ihren Beständen. "Sie waren sogar eher dran als viele Museen, die die Herkunft ihrer Kunstwerke überprüfen", sagt Freya Paschen, Sprecherin des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste. "Wir hoffen, dass der Erstcheck in Bibliotheken bundesweit Schule macht."

Die Magdeburger Historikerinnen nutzten Listen, in denen Juden den Nationalsozialisten ihr Hab und Gut teils detailliert benannten. Darunter sind viele Bücherlisten – auch Kiesels Entdeckung beruht darauf. Aus historischen Akten hatte sie Hinweise auf die jüdische Wäscheverkäuferin.

Monika Gibas, die den Erstcheck wissenschaftlich leitet, forschte anhand einer Bücherliste zum Besitz eines jüdischen Arztes aus Magdeburg. "Darauf standen 47 medizinische Bücher mit Titel und Autor und auch 66 jüdisch-religiöse Bücher." Die Historikerin konnte zwei der medizinischen Bücher in Dessau finden. "Ob das aber die Bücher des jüdischen Arztes sind, muss noch geklärt werden."

Bibliothekschefin Poenicke beschreibt das Problem so: "Kunstwerke haben Sie nur einmal, aber hier reden wir über die Massenware des 18. und 19. Jahrhunderts. Es geht darum, ein spezifisches Exemplar eindeutig zuzuordnen. Das ist schon ein Puzzlespiel." Anhaltspunkte wie Stempel, Widmungen und Eintragungen gilt es zuzuordnen – oft sind diese sehr sorgfältig überklebt oder herausgeschnitten worden, um Spuren in Richtung Vergangenheit zu verwischen.

Und selbst wenn das Buch gefunden und zugeordnet ist, endet die Arbeit der Provenienzforscherinnen nicht. Um zu klären, ob es tatsächlich NS-Raubgut ist, müsse der Weg des Buches und das Schicksal der Besitzer geklärt werden. Hat jemand seine Bücher an ein Antiquariat verkauft, um seine Ausreise bezahlen zu können? Wurde er enteignet und anschließend deportiert? Für die Forscherinnen sind viele Wege denkbar. Das und die komplizierte Quellenlage macht ihre Arbeit so schwierig. Elena Kiesel etwa hat Hinweise, dass der Wäscheverkäuferin die Ausreise nach London geglückt ist. Wie das Buch in die Bibliothek gekommen ist, ist aber noch offen.

Was die Forscherinnen wissen, ist dass die Bestände der Bibliotheken ab Ende der 1930er Jahre teils stark anwuchsen, teils wurden Spezialbibliotheken überhaupt erst angelegt. "Die Bibliotheken haben sich in den Antiquariaten bedient", sagt Gibas. Ankaufetats seien stark gestiegen. "In Dessau wurde 1943 plötzlich eine Musikbibliothek aufgebaut, die später in den Bombennächten vernichtet wurde." Weil Eingangsbücher fehlen, bleibt den Historikerinnen der Blick auf größere Zeiträume. Monika Gibas etwa kann für die Rosenbibliothek Sangerhausen, die eine Spezialbibliothek ist, sagen: 1935 sind 800 Medieneinheiten registriert worden – bei Weitem nicht alles Bücher, sondern Zeitschriften, teils auch einzelne Artikel. In einem Dokument aus dem Jahr 1947 ist dann von 4000 Büchern die Rede.

Bibliothekschefin Poenicke betont mit Blick auf die Forschung, dass – anders als bei Original-Kunstwerken – die Rückgabe der Bücher an eventuelle Nachfahren nicht im Mittelpunkt steht. Das hänge mit der höchst schwierigen Zuordnung der einzelnen Exemplare zusammen. "Es geht in erster Linie um eine moralische Verpflichtung." Den Bibliotheken in Sachsen-Anhalt sei das sehr wichtig. "Der Verband überlegt derzeit sehr ernsthaft, hier weiter forschen zu lassen", sagt sie. Ein weiteres Projekt würde anders als der Erstcheck aber nicht mehr komplett von der Deutschen Stiftung Kulturgutverluste übernommen, der Verband müsste eigene Mittel beisteuern. Woher das Geld kommen soll, muss noch geklärt werden.