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Ein dunkles Kapitel deutscher Sportgeschichte

11.04.2012, 03:24

Leichtathletik l Stuttgart (dpa) Das Mittel "Megagrisevit" sollte laut Hersteller eigentlich schwer krebskranken Menschen helfen. Birgit Dressel bekam es wie auch andere Sportler, um noch mehr Muskelmasse aufzubauen. Ein anderes Präparat wurde damals ausdrücklich bei Epilepsie empfohlen. Auch das Medikament fand sich später in den Krankenakten der deutschen Siebenkämpferin. Vor 25 Jahren, am 10. April 1987, starb Dressel nach drei Tagen unter qualvollen Schmerzen in der Uniklinik Mainz. Todesursache war ein toxisch- allergischer Schock. Unmengen von Medikamenten hatten ihren Organismus völlig überfordert.

Dressels Tod ist eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Sportgeschichte. Jenseits der menschlichen Tragödie offenbarte er zum ersten Mal in aller Klarheit, wie viel auch im westdeutschen Sport bis hin zu Dopingmitteln geschluckt und gespritzt wurde. Der "Spiegel" wertete 1987 das rechtsmedizinische Gutachten zu diesem Fall aus ("Ein Dokument des Schreckens"). Über 100 Medikamente und mehr als 400 Injektionen ließen sich bei der nur 26 Jahre alt gewordenen Athletin allein für die letzten zwei Jahre ihrer Behandlung durch den Freiburger Sportarzt Armin Klümper nachweisen.

"Der Fall war ein einziges Mahnmal", hat der Sportwissenschaftler und -funktionär Helmut Digel einmal gesagt. Doch Mahnmale halten zum Nachdenken und Erinnern an. Der Fall Dressel war stets von Verdrängung und Verharmlosung geprägt. Ein Jahr nach dem Tod der gebürtigen Bremerin wurde der Sprintstar Ben Johnson bei den Olympischen Spielen in Seoul mit dem anabolen Steroid Stanozolol (auch Stromba genannt) im Körper erwischt. Die gleiche Substanz hatte nachweislich auch die EM-Vierte von 1986 genommen. "Auf Johnson haben in Deutschland alle mit dem Finger gezeigt", sagt der Dopingexperte Werner Franke. Bei Dressel sei "nichts Besonderes nachgekommen. Das ist das, was ich die germanische Scheinheiligkeit nenne", so Franke. "Nicht die Scheinheiligkeit der einzelnen Sportler, sondern die Scheinheiligkeit des Systems. Birgit Dressel hätte als letztes Alarmzeichen dienen müssen."

Genau das passierte aber nicht. Von einem Innehalten oder einer Schockwirkung nach Dressels Tod konnte im deutschen Sport lange Zeit kaum die Rede sein. Ex-Bahnradfahrer Robert Lechner sagte vor der Kommission zur Doping-Vergangenheit der Freiburger Uniklinik aus, von Oktober 1987 an systematisch auch mit Stromba gedopt worden zu sein. Eine "mäßige Bewusstseinsänderung" (Süddeutsche Zeitung) trat erst nach dem Mauerfall und der Enthüllung des DDR-Dopings ein.

Für Dressel kam das zu spät. "Birgit ist ein Opfer der Pharma-Industrie", klagte Hermann Dressel nach dem Tod seiner Tochter an. Belangt wurde niemand. In dem Gutachten heißt es zwar: "Die sportärztlich durchgeführte Therapie [...] wird angesichts der außergewöhnlichen Zahl und der unterschiedlichsten Arten von Kombinationspräparaten und Fremdeiweißapplikationen als nicht mehr überschaubar angesehen." Doch ein "fahrlässiges und damit schuldhaftes Verhalten" sei Ärzten wie Klümper "nicht nachzuweisen".