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Ehemaliger Magdeburger Amateur-Meister lässt sich nicht unterkriegen / Mit 50 Jahren noch immer im Ring Andreas Sidon: ... der sich durchs Leben boxt

Von Janette Beck 05.04.2013, 15:55

Magdeburg/Gießen. Zwei Fäuste für ein Halleluja mit 50! Andreas Sidon will es (mal wieder) wissen. Der Schwergewichtler, der 1999 als Mannschaftsmeister mit dem Magdeburger Boxclub seinen größten sportlichen Erfolg als Amateur feierte, steigt an diesem Sonnabend in Gießen in den Ring. Es ist sein 53. Kampf als Profi.

Andreas Sidon ist sich selbst ein Rätsel. Nicht so sehr beim Blick in den Spiegel. "Da sehe ich einen Fünfzigjährigen, der sich ganz gut gehalten hat und voll im Saft steht. Alles andere wäre Selbstverarsche", behauptet der Zwei-Meter-Mann, in dessen Pass schwarz auf weiß steht, dass er am 4. Februar 50 geworden ist. "Mein Alter merke ich immer dann, wenn ich mal eine Woche nicht trainiere. Dann falle ich muskulär zusammen wie eine Sahnetorte. Das war früher anders."

Was den Box-Oldie dieser Tage dennoch an "ein Wunder der Natur" glauben lässt, ist vielmehr, dass er das derzeitige Pensum durchhält. "Ich muss von irgendwoher kosmische Energie bekommen. Anders kann ich mir nicht erklären, dass ich nicht zusammenbreche."

Die bevorstehende Revanche im Schwergewicht gegen den zehn Jahre jüngeren Kanadier Sheldon Hinton, bei der es heute in Gießen auch um den WM-Gürtel des unbedeutenden Verbandes WBU geht, ist eine "One-Man-Show". Sidon tritt nämlich nicht nur als Titelverteidiger in den Ring. Er ist auch persönlicher Betreuer und Chauffeur seines Gegners. Und der Lokalmatador ist Werbetrommler, Medien-Partner und Geldbeschaffer. Denn als Eigenveranstalter trägt er das finanzielle Risiko selbst. "Ich bete, dass mehr als 700 Zuschauer kommen, sonst bin ich pleite."

Dem "Mädchen für alles" wird Multitasking abverlangt. Doch nicht nur just in diesem Moment, da Andreas Sidon in einer Sushi-Bar sitzt, in der einen Hand Stäbchen hält, während die andere samt Handy am Ohr klebt und er "das hundertste Telefonat des Tages" führt, beweist der Berufsboxer, dass er diese Fähigkeit besitzt. "Gelernt ist gelernt", grinst er verschmitzt.

Allerdings, die "Schule", durch die der frühere Thai- und Kickboxer gehen musste, war brutal. Einige Schicksalsschläge haben Sidon, der bereits als Zehnjähriger seine Eltern durch einen Autounfall verlor, vor harte Prüfungen gestellt. Die schwerste überhaupt war, dass 2003 auch seine Lebensgefährtin durch einen tödlichen Unfall starb. Fortan musste er sich als alleinerziehender Vater mit den drei gemeinsamen Kindern durchs Leben boxen.

"Warum muss ich diesen schweren Weg gehen?"

Es ging weiter. Immer. Irgendwie. Mit kleinen Börsen, die gerade einmal zum Überleben reichten. Nach dem Verlust seiner Profilizenz 2007 lebte die Familie von Hartz IV und Kindergeld. Zehn Jahre nach dem tragischen Ereignis spricht Sidon mit Vorliebe über seine Kinder. Saskia ist inzwischen 20, Albano 19 und Mandana 14. "Alle drei machen das Abitur. Sie sind bald schlauer als ich mit meinem Fachabitur und der Lehre als Landschaftsgärtner", berichtet der Vater stolz. Den beiden Jüngeren wurde zudem sportliches Talent in die Wiege gelegt. "Albano ist ein begnadeter Fußballer. Er steht kurz vor einem Profivertrag beim FC Kaiserslautern. Die Kleine ist 1,80 Meter groß und spielt Basketball. Die hat\'s auch echt drauf."

In Gedanken versunken, sinniert der harte Kerl mit dem weichen Kern: "Ich glaube, dass meine drei Kinder mit beiden Beinen fest im Leben stehen, das ist vielleicht meine größte Lebensleistung überhaupt."

Es gab durchaus Zeiten, da habe er sich alleingelassen gefühlt, gesteht Sidon. "Ich habe mich öfter gerfragt: Was habe ich verbrochen, lieber Gott, dass ich diesen schweren Weg gehen muss?" Eine Antwort auf diese Fragen habe er bis heute nicht gefunden. Vielleicht sei ihm die Rolle des Kämpfers vor dem Herrn zugedacht, philosophiert er. "Mein ganzes Leben ist ein Kampf. Und so ist es wohl meine Bestimmung, anderen als Vorbild zu dienen und zu zeigen, dass ein Mensch durch Bestehen von Prüfungen Stärke erlangt. Und dass man nach Niederschlägen wieder aufstehen und weitermachen muss, um nicht unterzugehen."

Auch im Ring stand Sidon nicht nur auf der Sonnenseite. Seine "definitiv erfolgreichste Zeit als Box-Amateur" habe er Ende der 90er Jahre beim 1. Boxclub Magdeburg erlebt. "Die Meisterschaft mit dem BCM war der Hammer. Ich werde nie vergessen, dass wir mit einem Autokorso durch die Stadt gefahren sind und die Polizei uns eskortiert hat." Zu Trainer-Fuchs Walter Cybinski halte er bis heute Kontakt. "Von Walter habe ich viel gerlernt. Er war schlitzohrig, aber auch eine Seele von Mensch. Der Zusammenhalt in Magdeburg war groß, wir waren wie eine Familie. So etwas habe ich nirgendwo anders erlebt."

Alles andere als familiären Zusammenhalt erlebte der Selfmademan später als Profi. Da war er als 36-jähriger Einzelkämpfer mehr geduldet als respektiert. Als er sich 2007 gegen den Lizenzentzug durch den Bund Deutscher Berufsboxer (BDB) wehrte, wurde Sidon zum Querulanten abgestempelt. "Mit mir altem Sack konnten sie doch keinen Staat machen. Also musste ich weg", wertet der aus dem Verkehr gezogene Berufsboxer die Sperre wegen gesundheitlicher Bedenken als "reine Willkür". Und so bot Sidon dem BDB mit ärztlichen Gegengutachten die Stirn, zog vor Gericht, klagte auf Schadenersatz. Der Rechtsstreit währt bis heute.

"Ich entscheide, wann Schluss mit Boxen ist"

"Ich wäre wirklich der erste Boxer, den der BDB aus gesundheitlicher Sicht schützt", so der Oldie, der da "ganz andere Härtefälle" sieht: "Man sollte sich beim BDB lieber um die Boxer kümmern, die scharenweise aus dem Ausland herangekarrt und sich fürs Antrittsgeld verprügeln lassen. Die, die von 30 Profikämpfen 28 verloren haben, oftmals auch noch durch K.o., die brauchen mehr Schutz als ich."

In Bezug auf sein Karriere-Ende zeigt sich Sidon nach wie vor starrsinnig. "Ich bin alt und mit Blick auf meine Kinder auch verantwortungsbewusst genug, um zu wissen, was ich tun oder lassen sollte. Ich lasse mir von niemandem verbieten, meinen Beruf auszuüben. Boxen ist mein Leben und meine Existenz. Und ich entscheide ganz alleine, wann es vorbei ist."

Vielleicht ist der Moment für den Abschied bereits an diesem Sonnabendabend gekommen: "Wenn ich den Kampf verliere, ist Schluss mit dem Boxen", verkündet Sidon - wohlwissend, dass sein Kampf weiter gehen wird. Er kennt es nicht anders. Und er kann wohl auch gar nicht anders.