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  7. Martin Wierig: SCM-Diskuswerfer beendet Leistungssport-Karriere bei Solecup Schönebeck

Leichtathletik Abschied im „Wohnzimmer“: Darum beendet Martin Wierig vom SCM seine Karriere

Nach 25 Jahren verabschiedet sich der SCM-Diskushüne Martin Wierig von seiner Leistungssport-Karriere. Die Tränen fließen im „Wohnzimmer“ in Schönebeck.

Von Daniel Hübner Aktualisiert: 18.07.2024, 10:35
7. August 2012: Beim schönsten Erlebnis seiner Karriere in London nimmt der sechstplatzierte Martin Wierig den Olympiasieger Robert Harting in den Arm.
7. August 2012: Beim schönsten Erlebnis seiner Karriere in London nimmt der sechstplatzierte Martin Wierig den Olympiasieger Robert Harting in den Arm. Foto: imago/sportfotodienst

Magdeburg - Seit Monaten liegt er seiner Anna in den Ohren und erzählt ihr, dass „ich Bammel vor diesem Tag habe“, berichtet Martin Wierig. Bammel vor dem letzten Wurf. Bammel vor den vielen Umarmungen, die ihn zum Abschied seiner Diskuswerfer-Karriere erwarten.

Martin Wierig: SCM-Diskuswerfer beendet Leistungssport-Karriere

Den Solecup in Schönebeck am kommenden Sonnabend (16.10 Uhr) hat sich der 2,03-Meter-Hüne vom SC Magdeburg für diesen Moment ausgesucht, auch weil es womöglich leichter ist, Tränen unter Freunden zu vergießen. Und nicht zuletzt, weil der Solecup nun mal „immer mein Lieblingswettkampf war, bei dem ich oft meine Saison gerettet habe“, sagt Wierig lächelnd. „Außerdem ist er direkt vor der Tür, da kommen viele Menschen.“

In seinen Gedanken ist an diesem Tag auch Armin Lemme dabei, der langjährige Trainer Wierigs, der vor drei Jahren einem Herzleiden erlag. Der immer noch auf dem Handybild in Wierigs Whatsapp-Status lächelt. „Er war eben ein sehr wichtiger Mensch in meinem Leben, er wird immer einen Platz in meinem Herzen haben“, sagt der 37-Jährige. „Dass er mein Talent entdeckt hatte, war für mich Gold wert.“ Auch wenn die beiden international nie Gold, Silber oder Bronze gewonnen haben. Geht Wierig also als der Unvollendete in die Leistungssportrente?

Nach zahlreichen Verletzungen: Wierig feiert Karriere-Abschied beim Solecup Schönebeck

Als er am vergangenen Mittwoch in seinem Haus am Esstisch Platz nimmt, möchte man ihm eigentlich alles erdenklich Gute für die nächsten Herausforderungen im Diskusring wünschen. Diesem schlanken, muskelgestählten Riesen mit der Aura eines Gemütsmenschen und der weichen Stimme. Er sieht nicht aus wie ein Athlet, für den es „Zeit ist, zu gehen“, wie er selbst sagt. Und ja, „wenn mein Körper es noch mitmachen würde, könnte ich auch noch bis zur Rente werfen“.

Aber da war das Schulter-, das Rücken und zuletzt vor allem das Knieproblem, das ihn nach der Europameisterschaft 2022 in München, als er seinen Start kurzfristig absagen musste, zur langen Pause zwang. „Trotzdem hatte ich für mich entschieden, dass ich es in Richtung Olympische Spiele in Paris noch einmal versuchen will“, erinnert sich Wierig. Er hat es versucht, aber er hat es nicht geschafft. „Aus sportlicher Sicht“, erklärt er, „hätte ich meinen Abschied lieber im Olympiastadion von Paris gegeben.“ Jetzt gibt er ihn im seinem „Wohnzimmer“ in Schönebeck.

Und den gibt er nach 25 Jahren im Leistungssport, gezählt von seinem Wechsel vom SV Seehausen zum SCM im September 1999, als er als vermeintlicher Sprinter nach Magdeburg kam, als er dann von Coach Günther Ott zunächst zum Hürdenläufer ausgebildet wurde.

Das denkt Martin Wierig über seine Leistungssport-Karriere

„Ich hatte eine fantastische Kindheit, meine Eltern mussten mich nicht zum Sport zwingen. Ich bin mit sechs Jahren erstmals in Seehausen zum Fußball und zur Leichtathletik gekommen, habe dann in beidem nicht nur eine Einheit pro Woche absolviert, sondern bin noch zum Training der älteren Gruppe gegangen“, erzählt er von den Anfängen in der Börde. Aber ein Hürdensprinter wurde er trotzdem nicht. Dank Armin Lemme.

Das hat natürlich genagt damals, weil ich eine bessere Form hatte als 65 Meter.

Martin Wierig zu seinem vierten Platz bei der WM 2013

Als er am ersten Schultag 2000 zum ersten Training kam, erklärte ihm der ebenfalls bereits verstorbene Trainer Ott: „Ab morgen bist du bei den Werfern.“ Wierig hatte im ersten Jahr Probleme mit dem Wachstum, dem der Muskelaufbau nicht mehr folgen konnte. Als dann die Kraft allmählich in die Arme und Beine zurückkehrte, die langen Hebel und seine Schnellkraft ihn für eine Wurfdisziplin prädestinierten, hat ihn Lemme zu sich geholt und ist mit ihm ins Erfolgsprojekt gestartet. Sie haben selbst die Pubertät Wierigs gemeinsam überstanden. „Er war auch immer ein wichtiger Ansprechpartner fürs Leben.“ Und sie sind durch alle sportlichen Höhen und Tiefen gegangen.

30. September 2019: Nach seinem achten Platz klatschen Martin Wierig und sein langjähriger Trainer Armin Lemme ab.
30. September 2019: Nach seinem achten Platz klatschen Martin Wierig und sein langjähriger Trainer Armin Lemme ab.
imago images/Sven Simon

Wenn man sich damals mit Lemme über den Sportler Martin Wierig unterhielt, unterhielt man sich über zwei prägende Erlebnisse, die Wierig gerne bestätigt: „Für uns beide war der sechste Platz bei den Sommerspielen in London überragend, dazu gehörte auch der Weg dorthin, den wir gemeinsam bestritten haben“, berichtet Wierig. Das war 2012. Ein Jahr später wurde er Vierter bei der Weltmeisterschaft in Moskau, als Wierig seinen ersten Versuch über medaillensichere 66 Meter brachte, die Scheibe aber knapp neben dem Sektor landete. „Das hat natürlich genagt damals, weil ich eine bessere Form hatte als 65 Meter, die ich letztlich in Moskau geworfen habe. Am Ende haben mir 17 Zentimeter gefehlt“, erinnert sich Wierig.

Hinzu kam noch die Qualifikation zur EM 2018 in Berlin, die Wierig ebenso wie seine heutige Frau Anna – damals unter dem Mädchennamen Rüh – um wenige Zentimeter verpasste. „Damals hat sich unser Trainer hinterfragt, diese Niederlage hatte spürbar Spuren bei ihm hinterlassen. Aber Anna und ich haben ihm das Gefühl gegeben: Wir stehen hinter ihm.“ Und Wierig selbst hatte nie das Gefühl gehabt, er bräuchte einen Trainerwechsel.

Martin Wierig: Sportler aus ganzem Herzen

Den eigenen Zenit hatte Wierig in jenem Jahr bereits überschritten. „2012, 13 und 14 waren eigentlich meine besten Jahre.“ In dieser Zeit erzielte er seine Bestweite von 68,33 Metern – natürlich in Schönebeck. Der zweimalige deutsche Meister hätte auch gerne die Olympischen Spiele in Rio 2016 und in Tokio 2021 gesehen. Aber er sagt: „Vor Rio, so fair muss man sein, waren einfach drei Werfer besser.“ Vor Tokio wiederum „war ich im April noch der beste Deutsche, habe mir dann einen Muskelfaserriss in der Brust zugezogen. Ich konnte vier Wochen nicht trainieren, das war mein Genickbruch.“

11. Mai 2024: Auf seiner Abschiedstour wirft Martin Wierig auch in Wiesbaden.
11. Mai 2024: Auf seiner Abschiedstour wirft Martin Wierig auch in Wiesbaden.
IMAGO/Beautiful Sports

Wierig mag nicht wehmütig auf verpasste Medaillen oder Sommerspiele zurückblicken, Wierig mag genau das genießen, was er 25 Jahre lang geleistet hatte und was ihn wiederum zum Aushängeschild des SCM machte. „Sicher ist im Rückblick auch ein weinendes Auge dabei, weil wir den Sport ja gemacht haben, um eines Tages auf dem Podest zu stehen. Aber ich habe an sechs Weltmeisterschaften teilgenommen, ich habe in elf Jahren immer über die 65 Meter geworfen. Ich war bis auf das vergangene Jahr, in dem ich das einzige Mal eine Saison verpasst habe, immer auf höchstem Niveau dabei. Ich war immer Leistungssportler aus ganzem Herzen. Und da bin ich wirklich stolz drauf.“

Ich bin so dankbar, dass ich nicht zum Abschied von einem OP-Tisch winken muss.

Martin Wierig über seinen Abschied

Diese Geschichte wird er am 20. Juli womöglich öfter erzählen, nachdem die ersten Tränen geflossen sind und bevor das zweite Leben nach dem Leistungssport mit Anna, ihrem gemeinsam Sohn Anton und Matthis aus seiner erster Beziehung startet. Ob der Bundespolizist eines Tages als Trainer arbeitet? Den letzten Präsenzkurs, die letzte Prüfung zur A-Lizenz absolviert er im Oktober. Wierig denkt darüber nicht nach. Wierig will zunächst den Bammel vor Schönebeck überstehen: „Ich bin so dankbar, dass ich nicht zum Abschied von einem OP-Tisch winken muss, sondern selbst entscheiden kann, wann ich den Ring verlasse. Und jetzt fühlt es sich richtig an.“