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Rudern Ein Gewinner der Wende

Olympiasieger für die DDR und für Deutschland - der Ruderer Thomas Lange aus Halle hat eine besondere Geschichte geschrieben.

Von Daniel Hübner 27.11.2019, 11:20

Bad Schwartau l Der Wartesaal lädt zum Fliegen ein. Bilder an den Wänden zeigen ein einmotoriges Flugzeug oder zwei Piloten bei der Vorbereitung auf den Start ihrer Maschine. Über der Eingangstür zur Praxis und der Ausgangstür zum Treppenhaus sind gelbe Schilder mit den Hinweisen Ankunft und Abflug angebracht. Die Besucher der Ostseeklinik in Bad Schwartau sitzen in der ersten Etage des roten Backsteingebäudes ebenso eng gedrängt, aber weich auf Passagiersitzen wie in einem Flieger. Touristenklasse. Hier jedoch holt der Kapitän seine Patienten persönlich ab. Und einer der Kapitäne heißt Thomas Lange.

Freundliches Lächeln. Sanfte Stimme. Kräftiger Händedruck. Immer noch 1,90 Meter groß. Inzwischen 55 Jahre alt. Und: Plastischer Chirurg. Das ist der Ruder-Olympiasieger im Herbst 2019. „Ich wollte eigentlich Allgemeinmediziner werden“, berichtet Lange, „habe dann aber schnell erkannt, dass ich nicht den ganzen Tag mit Patienten reden, Tabletten verschreiben oder bei Visiten Diagnosen diskutieren kann. Ich musste etwas tun, ich musste aktiv werden. Deshalb war für mich die plastische Chirurgie in Verbindung mit Handchirurgie ein lohnendes Ziel.“ Und eines der vielen Ziele, die Thomas Lange in seinem Leben erreicht hat.

An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängen zwei eingerahmte Stiche: Der eine zeigt das Panorama der Stadt Halle, der andere – in einer Lithographie von A. Paul Weber – den „Ratzeburger Achter“. Das ist Heimatgefühl und Erinnerung zugleich, obschon Lange nie im Achter, sondern zu den ganz großen Höhepunkten immer im Einer gefahren ist. Für die DDR 1988 im südkoreanischen Seoul, für Deutschland 1992 im spanischen Barcelona. Lange hat unter beiden Flaggen olympisches Gold gewonnen. Solch eine Anekdote der Wendegeschichte schrieb nur noch Birgit Peter, ebenfalls Ruderin. Die Potsdamerin gewann in Seoul im Doppelzweier, in Barcelona im Doppelvierer.

In Seoul hat Lange den Olympia-Fluch seines bundesdeutschen Rivalen endgültig besiegelt. Peter-Michael Kolbe blieb bei seinen dritten Sommerspielen zum dritten Mal nur Silber. Lange wiederum ruderte in einer „außergewöhnlichen Drucksituation, in der von mir viel abverlangt wurde“. Die kleine DDR definierte ihre Erfolge über den großen Sport. „Drei Monate vor Seoul durfte ich kein Auto mehr fahren“, berichtet Lange. „Selbst Reisen nach Berlin wurden verboten.“ Kein Wunder also, „dass von mir nach dem Sieg eine große Last abgefallen ist“. Lange wollte abliefern, vor allem aber musste Lange abliefern.

Dabei wollte er eigentlich Schwimmer werden. „Ich war auch gar nicht schlecht“, erinnert sich Lange an die ersten Schritte zum Leistungssportler bei Rotation Halle. „Dann wurde mir gesagt, ich wäre dafür nicht geeignet. Zu dick, zu breit, zu schwer. Ich habe es nicht verstanden.“

Sein Vater, ein General und Bezirksverwaltungsleiter im Ministerium für Staatssicherheit, meinte dann: Der Junge muss an die frische Luft. Seine Mutter, eine Ärztin, schickte das „typische Kind des Sozialismus“, wie sich Lange einmal nannte, zum Rudern. Zu Lothar Trawiel, heute noch Vorsitzender des HRV Böllberg. Sie sollten ein Duo bleiben bis Langes Karriereende 1996. Als er mit 32 Jahren noch einmal Bronze bei den Sommerspielen in Atlanta gewann. Es war ein Abschied ohne Wehmut. „Ich habe alles erreicht, was ich erreichen konnte“, resümiert Lange. „Wie sollte da Wehmut aufkommen?“

Die DDR hatte alles angerichtet für ihren Erfolg: In jeder der 15 Bezirksstädte gab es eine Kinder- und Jugendsportschule. Dort wurde trainiert, dort blieb man unter sich. Athleten aus den einzelnen Schulen trafen sich allenfalls bei Lehrgängen oder im Höhentrainingslager im bulgarischen Sportzentrum Belmeken. „In der DDR und auch kurz nach der Wende wurde noch mehr in den Sport investiert als heute“, berichtet Lange. „Heute fehlt doch die Möglichkeit, effektiv Sport treiben zu können. Wenn ich als Ruderer weiß, dass ich keine Millionen verdiene, versuche ich, Sport und Studium zu verbinden.“

Was nun schlecht funktioniert, wenn Skuller in Hamburg oder Skullerinnen in Berlin wie seit November 2018 „viel zu weite Wege haben“, meint Lange. „Es fehlen die Zentren, die sowas leisten können. Jede kleinere Stadt wie Hannover, Lübeck, Halle oder Magdeburg wäre besser geeignet.“ Fazit: „Für den Leistungssportler ist es ungleich schwieriger geworden als zu meiner Zeit.“

Seine zweite Zeit kam in Barcelona. Drei Jahre nach dem Mauerfall. „Für uns hatte sich nichts geändert“, sagt Lange über seinen Alltag an der Uni und im Training. Auch seine Rolle als Favorit nicht. Es wurde ein harter Kampf. Wieder hatte Lange sich einen großen Vorsprung erarbeitet, nur kam der Tscheche Vaclav Chalupa noch einmal gefährlich auf. Lange rettete sich ins Ziel. Es folgte Jubel, es folgte Erschöpfung. „Natürlich habe ich mich auch über diese Goldmedaille gefreut“, erklärt er. „Aber den emotionaleren Sieg habe ich 1988 erlebt.“ Als Erfolg auch eine Pflicht war. In Barcelona war er eine Hoffnung.

Ein emotionales Ereignis war der Mauerfall im November 1990 für ihn nicht, auch kein Anlass zum Jubel. Lange kann keine romantische Geschichte von nächtlichen Fahrten über die deutsch-deutsche Grenze erzählen, er hat auch keine Steine aus der Mauer geschlagen. „Ich war wie wohl die meisten Menschen zu Hause, habe mein Leben gelebt und das Ereignis am Fernseher und aus der Ferne verfolgt. Meine Frau Heike war berufstätig. Wir hatten mit Arne und Martin schon unsere beiden Söhne. Und ich musste jeden Tag zur Uni, denn Medizin ist ein sehr anspruchsvolles Studium.“

Zudem: „Ich war enttäuscht vom politischen System, davon, wie die Perspektiven einbrachen. Ich war in der DDR selbst Mitglied der SED und habe mir danach gesagt: Ich möchte kein politisches Amt bekleiden, ich werde in keine Partei mehr eintreten.“

Lange hat sich weiter auf das konzentriert, was seit Jahren sein Leben bestimmt hatte. Er zog 1994 nach Ratzeburg mit seiner Familie. Auch weil seine Frau aus Mecklenburg-Vorpommern stammt und eine örtliche Veränderung wollte. Auch, weil Trainer Trawiel Leiter des dortigen Bundesstützpunktes wurde. Auch, weil er die Chance hatte, erst am Ratzeburger Krankenhaus und dann an der Uni in Lübeck in die Welt der plastischen Chirurgie einzutauchen.

30 Jahre nach dem Mauerfall praktiziert Lange in seiner Wahlheimat, sowohl in Ratzeburg als auch in Bad Schwartau. Zu seinem einstigen Rivalen Peter-Michael Kolbe hat er regelmäßig Kontakt. Kolbe ist aktiv beim Lübecker Ruderclub, Lange der Vorsitzende des Ratzeburgers. „Wir rudern häufiger zusammen“, berichtet Lange. „Aber wir haben nie über das Rennen von 1988 gesprochen oder diskutiert.“

An jenes Rennen erinnert nicht nur die Goldmedaille, sondern auch der Stern der Völkerfreundschaft in Gold, dem ihm die DDR verliehen hat. „Das zeigt auch, dass damals die Aufmerksamkeit eine weitaus größere war als heute, wo es ein Bild des Bundespräsidenten im Silberrahmen gibt. Und das war‘s“, erklärt Lange. Neun Jahre später erhielt er die Thomas-Keller-Medaille, die höchste Auszeichnung für einen Ruderer durch den Weltverband. „Auf die Medaille bin ich sehr stolz, weil sie nur einmal im Jahr und meist an nur eine Person vergeben wird.“

Ob Stern oder Medaillen: Lange hat alles in eine Schachtel gepackt und in den Schrank gelegt. Die Erinnerung an seine großen Erfolge braucht das einstige „Kind des Sozialismus“ nicht. Zum Glück. Lange ist heute ein gestandener und erfolgreicher Mann im Kapitalismus. Und zufrieden mit seinem Leben. Er sagt, zu wissen, was man kann und was nicht, „hat mich vor falschen Entscheidungen bewahrt“.

Lange wäre gewiss auch in der DDR zufrieden, ja glücklich gewesen. „Ich wäre wahrscheinlich ebenfalls Arzt mit einem gesicherten Arbeitsplatz geworden“, sagt er. Nun ist er ein Arzt in Deutschland. Und kann von sich behaupten: „Ich bin ein Gewinner der Wende.“