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Boxen Wegner: "Als würde ich nach Hause kommen"

Die Trainer-Legende Ulli Wegner feiert 75. Geburtstag. Magdeburg ist in seiner Karriere ein besonderer Ort.

Von Rudi Bartlitz 25.04.2017, 23:01

Magdeburg l Wir schreiben den 4.  September 1999. Als Ulli Wegner an diesem lauen Sonnabendabend die Bördelandhalle – wie sie damals noch hieß – betritt, traut er kaum seinen Augen. Die Arena, in der sein Schützling Sven Ottke in gut zwei Stunden den Weltmeistertitel gegen den US-Amerikaner Thomas Tate verteidigen soll, ist mit knapp 8000 Besuchern rappelvoll bis unters Dach.

Draußen hoffen Zuspätgekommene noch irgendwie auf ein Ticket. „Ich wollte es einfach nicht glauben“, erzählt Wegner hinterher. „Svenni war kein Magdeburger, nicht mal aus dem Osten, sondern aus dem fernen Karlsruhe – und dann diese Begeisterung für meinen Jungen.“ Es sollte nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Magdeburg ihn, den Meister-Coach, überrascht.

Ein Jahr später melden Reporter aus dem City-Carré einmalige Szenen. Beim Show-Training drängen sich Hunderte Menschen im engen Lichthof, nur um Ottke zu sehen. Den Sicherheitskräften steht der Angstschweiß auf der Stirn. „So etwas habe ich nie erlebt – vorher nicht, nachher nicht“, sagt Wegner, der heute seinen 75.  Geburtstag feiert. „Magdeburg, das war immer etwas ganz Besonderes, Beeindruckendes, Emotionales.“

Etwas ganz Besonderes ist es, als ihn sein Schützling Ottke im März 2004, am Ende einer einzigartigen Laufbahn, im Magdeburger Ring mit einem Luxus-Cabrio beschenkt. Ausgerechnet jener Ottke, von dem es heißt, er habe statt eines Portemonnaies einen Igel in der Tasche. „Den Z4 werde ich nie, nie weggeben oder verkaufen, das ist doch klar. Mensch, dass ein Athlet seinem Trainer ein Auto schenkt, wo gibt es denn so etwas!?“ Wegner stehen die Tränen in den Augen.

Ottke, das spürt man sofort, ist mehr als nur Wegners Musterschüler, für den Vater dreier Töchter ist er fast so etwas wie ein Sohn. Viele in der Stadt schwören seinerzeit übrigens Stein und Bein, dass der „Svenni“, der so locker, volksnah und normal daherkommt, eigentlich nur ein „Ossi“ sein kann. Der pfiffige Junge, aufgewachsen in Berlin-Spandau, lässt sie in diesem Glauben ...

Was heute die wenigsten wissen: Der Trainer selbst hat einen Anteil daran, dass Sachsen-Anhalts Landeshauptstadt überhaupt zu einer Box-Hochburg aufsteigt. Denn er ist es, der beim Privatsender RTL, der seinerzeit die Fights des Sauerland-Stalls überträgt, immer wieder geradezu darum bettelt, doch endlich einmal im Osten zu veranstalten.

Es bleibt lange eine Aktion „Taube Ohren“. Die Kölner wollen nicht, schalten auf stur. Wegner lässt nicht locker. Und als irgendwann einmal keine West-Halle verfügbar ist und die TV-Quoten gerade ein wenig bröckeln, da schlägt tatsächlich die Stunde für Magdeburg. Zumal hier im jungen Ulf Steinforth, damals Präsident des Box-Amateurklubs 1. BCM, ein umtriebiger und ideenreicher Organisator seine Hilfe anbietet.

Später wird Wegner, der Mann, der acht Faustkämpfer zu Weltmeistern macht, weltweit als einer der Besten seiner Branche gilt und bei über 100 WM-Gefechten in der Ecke coacht, gleich zweimal gebeten, sich ins „Goldene Buch“ der Landeshauptstadt einzutragen. „Immer, wenn ich die Stadtgrenze erreiche, dann kribbelt es“, beschreibt der heutige Berliner jenes Gefühl in der Magengegend. „Es ist irgendwie, als würde ich nach Hause kommen.“

Zu Hause, das ist für Wegner eigentlich Stettin. In den Kriegswirren flüchtet die Familie, kommt im bettelarmen mecklenburgischen Penkun unter. An Boxen ist nicht zu denken, der junge Ulli ist Fußball-Narr durch und durch. Sein Lieblingsklub: Manchester United. Er heult Rotz und Wasser, als die Hälfte des Teams 1958 bei einem Flugzeugabsturz über München ums Leben kommt. Und er verblüfft später seine Magdeburger Gastgeber damit, dass er die Aufstellung der 74er FCM-Europacupgewinner wie im Schlaf aufsagen kann.

Mit dem Faustkampf in Berührung kommt Wegner dann erst Anfang der sechziger Jahre während der Armeezeit in Rostock. Er bleibt ihm treu. Aber seine schiefe Nase, die so mancher Berichterstatter, wie auch sonst, als schmerzliche Folge einer feschen Ringschlacht interpretiert, stammt vom Fußball: „Bei einem Flugkopfball hat mich ein Verteidiger im Gesicht erwischt. Da hat es knack gemacht.“ Knack macht es dann ebenso im Seilgeviert. Nicht so sehr als Fighter, da ist der DDR-Mannschaftstitel 1980 mit Wismut Gera die höchste Weihe, dafür umso mehr als Coach. Wegner büffelt, absolviert ein Sportstudium. Erfolge stellen sich ein, zunächst beim Spitzenklub TSC Berlin, nach der Wende als Bundestrainer der Amateure.

Wenn heute das Wort Legende so etwas wie der zweite Vorname Wegners ist, stellt sich ganz zwangsläufig die Frage nach dem Erfolgsgeheimnis. „Es gibt keins“, brummelt der Betroffene – und grinst. „Es sind zwei einfache Dinge: harte Arbeit und die Liebe zu den Sportlern. Wenn dir das fehlt, solltest du besser aufhören“. Für Manfred Hönel, der als Sportjournalist den Lebensweg des Kult-Trainers seit fast 40 Jahren begleitet, steckt weit mehr dahinter: „Klar, Ulli ist in der Ringecke ein harter Hund. Zugleich ist er aber ein ganz großer Psychologe. Wenn es ein Geheimnis bei ihm gibt, dann ist es seine unerhörte akribische Kampfvorbereitung. Er studiert noch heute Lehrbücher aus aller Welt. Das nimmt schon wissenschaftliche Züge an.“ Tatsächlich, wie er aus dem boxerischen Straßenköter Marco Huck einen Weltmeister formt, grenzt an ein kleines Wunder. Wegner: „Das ist so etwas wie meine Doktorarbeit.“

Seit 1996 also arbeitet er als Coach bei den Profis. Die großen Boxställe im Westen erkennen schnell, welchen DDR-Trainer-Diamanten ihnen die Wende da quasi vor die Füße spült: Manfred Wolke, Fritz Sdunek, Ulli Wegner. Wie denn der Umgang mit den West-Chefs anfangs gewesen sei, wird Letzterer in einer TV-Show gefragt. Antwort: „Die verstehen es schon, wenn du es ihnen richtig erklärst.“ Es sind Sätze wie diese, für die er geliebt wird – nicht nur im Osten.

Er, der Hitzkopf Wegner, der seinen Vorgesetzten auch öffentlich Paroli bietet: „Die sollen nicht denken, dass sie mit uns alles machen können.“ Den Mann, der mit seinen Schützlingen Millionen Menschen begeistert, weil sie die immer seltener werdende Karriere-Durchlässigkeit dieser Gesellschaft verkörpern – den millionenfachen Traum vom Aufstieg. Der Ulli mit der Reibeisenstimme, die Seele aller Boxtrainer in Deutschland, hat ihn geschafft.

Sollte es so etwas geben wie gelebte Dialektik – auch taugt Wegner als Beispiel. Zum einen schwärmt der bekennende Andrea-Berg-Fan von der Ausbildung in der DDR („Da hatte jeder eine Chance“) und spricht mit Hochachtung vom Boxen in der UdSSR („Meine Schule ist die große Sowjetunion“). Andererseits engagiert er sich in Berlin-Tegel, wo der Freund von John-Wayne-Filmen lebt, für die CDU - und nennt Angela Merkel „zu 100 Prozent die richtige Bundestrainerin für Deutschland“. Er meint das nicht ironisch. „Ich fühle mich als Sonntagskind“, fasst der Jubilar sein Leben zusammen. Und als Wende-Gewinner, möchte man hinzufügen. Einer, der es von ganz unten, aus den tiefen Schächten der Wismut, bis nach ganz oben geschafft hat. „Ich habe in der DDR den Trainerberuf erlernt. Das war die Grundlage. Die Einheit Deutschlands hat sich für mich als besonders großes Glück entpuppt.“

Fast 18 Jahre nach seinem ersten WM-Kampf in Magdeburg gibt Wegner im Gespräch mit der Volksstimme erneut eine Liebeserklärung an diese Stadt ab. „Sollte ich einmal die Handschuhe an den Nagel hängen mit 80, dann wünsche ich mir, dass dies hier passiert. Mein Svenni hat hier aufgehört. Ich möchte das auch.“