Ein Arzt im Kampf gegen Ungleichbehandlung
Zum "Magdeburger des Jahres 2012" wählten die Leserinnen und Leser der Volksstimme den Kinderarzt Gunther Gosch. Volksstimme-Redakteurin Katja Tessnow hielt die Laudatio auf den Geehrten.
Wenn in Deutschland Spenden eingesammelt werden, um Krankheiten wie der Kinderlähmung weltweit Herr zu werden, dann ist das aller Ehren wert. Es erregt - je nach Geschick der Spendensammler - mehr oder minder Aufsehen. Jedenfalls erschließt sich jedermann sofort der Sinn. Eine Spendensammlung für die Grippeschutzimpfung von Kindern in Magdeburg mag dagegen auf den ersten Blick für Irritationen sorgen. Dr. Gunther Gosch hat beides initiiert: Rockkonzerte gegen die Kinderlähmung und einen Scheck gegen die Grippe.
Dem Einsatz für die Kindergesundheit an den ärmsten Rändern dieser Welt einen solchen zur Seite zu stellen, der in die Mitte unserer Gesellschaft mit ihrem vergleichsweise vorbildlichen Gesundheitssystem zielt, das erfordert einigen Mut. Für beide Aktionen und wohl in einer tiefen Sorge ums Miteinander vor der eigenen Haustür und auf der ganzen Welt gaben weit mehr als eintausend Volksstimme-Leser dem Magdeburger Kinderarzt ihre Stimme bei dieser Wahl. In ihrem Ergebnis, ich bin sicher, drückt sich ein Wunsch nach Gerechtigkeit aus und die Sorge, dass schärfer werdende Verteilungskämpfe weltweit wie auch hierzulande das Miteinander beschädigen.
Um die himmelschreiend ungerecht verteilten Chancen auf ein menschenwürdiges Leben in der Welt wissen wir alle. Wir hören aber auch zunehmend häufiger Nachrichten wie diese: Wer in Deutschland einmal arm dran ist, der bleibt es in der Regel sein Leben lang und meistens bleiben es auch seine Nachfahren. Die Qualität von Bildungsabschlüssen junger Menschen korrespondiert in Deutschland stärker als im Rest Europas mit dem sozialen Status der Eltern. Und wenn in Magdeburg erst unlängst die Teestube der Stadtmission mangels auskömmlicher Finanzierung schließen musste - sie bot zwei Jahrzehnte lang denen, die ganz unten angekommen sind, eine Heimstatt - wirft das ein besonders kaltes Schlaglicht aufs Gezerre an Budgets. Es tobt an allen Fronten. Wie jedermann weiß, tobt es nicht zuletzt im Gesundheitswesen.
Dr. Gunther Gosch spürt einen wachsenden wirtschaftlichen Druck täglich in der Praxis. Der Kinderarzt ist bei der Ausstellung von Rezepten - zum Beispiel für Hilfsmittel wie ein Inhalationsgerät oder gar für ein simples Schnupfenspray - gezwungen, über den Gesundheitszustand des jungen Patienten hinaus dessen Kassenzugehörigkeit zu beachten. Nicht nur, dass sich zwischen privat und gesetzlich deutliche Unterschiede abzeichnen, auch verschiedene gesetzliche Kassen regieren mit verschiedenen Leistungskatalogen weit in die medizinische Praxis hinein. Obendrein läuft diese von Patienten über, weil die Spardoktrin schon über Jahre einen Ärztemangel als "gefühlt" abtut, neue Niederlassungen blockiert und damit Praxispersonal und Patienten in einen regelrechten Krieg am Telefon oder am Tresen treibt: Hier folgt eine Terminschlacht auf die andere. Gosch fühlt einen "Paradigmenwechsel der Krankenkassen von der Solidargemeinschaft zum knallhart gewinnorientierten Konzern" und rügt das als "völlig verfehlte Politik, die Schaden anrichtet".
Es gibt nicht sonderlich viele Praktiker wie Gosch, die sich öffentlich zum vieldiskutierten Thema äußern. Zum einen sehen sie sich einer Unmenge von Interessenkonflikten gegenüber, wie Don Quichotte den Windmühlenflügeln. Zum anderen liefert sich der über wirtschaftliche Zwänge klagende Arzt schnell dem Verdacht der eigenen Gier aus. Zweifelsfrei gehören Ärzte nicht zu den Niedriglöhnern im Lande. Nur muss deshalb längst nicht jede Sparkritik aus ihrem Munde vom Blick aufs eigene Konto motiviert sein. Das wird aber gerne unterstellt. Die Lobbyisten streiten. Der Patient steht dazwischen. Der Medizinernachwuchs wandert ab.
Gunther Gosch ist ein sesshafter Mensch. Er ist in Magdeburg geboren und geblieben. Seine beruflichen Stationen führten ihn von der Ausbildung an der damaligen Medizinischen Akademie über ein Pflichtassistenzjahr in Havelberg zurück an die Akademie, die später zum Universitätsklinikum wurde. Hier baute er sechs Jahre lang die Intensivstation für Neugeborene auf, bis er sich anno 1998 als Kinderarzt in seiner Heimatstadt niederließ.
Als solcher und als ein fachlich höchst geachteter Vertreter seiner Zunft leidet Gosch wie schon erwähnt nicht unter Patientenmangel. Soll heißen: Der Arzt hat keine Not, öffentliche Aufmerksamkeit zum Gedeihen der eigenen Praxis auf sich zu ziehen - im Gegenteil. Es entspricht wohl vielmehr dem Naturell des Dr. Gunther Gosch, sich über den Alltag in der eigenen Praxis hinaus dem Gemeinwesen verpflichtet zu fühlen, mindestens insofern, da er sich an die Grenzen seiner ethischen Verantwortung als Arzt geführt sieht. Und das sieht er zum Beispiel bei der Grippeschutzimpfung.
Gosch gehört zu jenen Ärzten, die nicht müde werden, sich zu spezialisieren. Seit fast zehn Jahren hat er sich die Impfmedizin zum besonderen Steckenpferd auserkoren - aus sehr persönlichem Grund. Einer seiner Söhne, damals 4 Jahre alt, erkrankte 1993 schwer und komplikationsreich an Windpocken. Heute schützt eine Impfung wirksam davor. Gosch bildet sich weiter, organisiert Impftage, um auch die Kollegen auf den neuesten Stand der Forschung zu bringen, spricht auf Kongressen, in Fachverbänden, hält die Impfmedizin hoch und mahnt: "Viele sind sich ihres Wertes heute gar nicht mehr bewusst, weil sie nicht mehr erleben müssen, wie ein Kind zum Beispiel an Masern verstirbt."
An der Grippe aber versterben bis heute Jahr für Jahr Menschen auch in Deutschland. Eben deshalb treibt es Gosch auf die Barrikaden, dass die gesetzlichen Kassen seit 2010 am Grippeschutz sparen und Rabattverträge mit wenigen Impfstoffherstellern abschließen. Der Einsatz von deren Produkten wird per Befehl angeordnet und der einzelne Patient - darüber ist sich die Fachwelt weitgehend einig - kommt dadurch nicht unbedingt in den Genuss des für ihn wirksamsten Impfstoffes.
Speziell Kindern verheißen Studien durch einen neuen Impfstoff in Form eines Nasensprays einen deutlich verbesserten Schutz, allein: Die gesetzlichen Kassen hatten ihn nicht auf der Liste. Impfexperte Gosch stimmt laut in die bundesweite Kritik daran ein. Der Protest bringt immerhin Barmer und AOK zum Einlenken - sie zahlen das Spray für diese Grippesaison. Für die kommenden Jahre haben sachsen-anhaltische Kassen just einen neuen Vertrag mit schön viel Rabatt geschlossen: Die moderne Impfform bleibt wieder außen vor. Gosch, so viel ist sicher, wird keine Ruhe geben, gegen die aus seiner Sicht "skandalöse Ungleichbehandlung" von Patienten je nach Kassenzugehörigkeit Sturm zu laufen - sei es, wenn nichts anderes hilft, mit öffentlichkeitswirksamen Spendenaktionen auch für die Sicherstellung der hiesigen medizinischen Grundversorgung.
Immerhin 3000 Euro knöpfte Gosch seinen Freunden im Rotary Club Magdeburg Otto von Guericke in diesem Herbst ab, um Kinder in Magdeburg modern zu impfen und vielmehr noch, um die systematisch erzwungene Ungleichbehandlung in hiesigen Praxen - zum Beispiel, aber längst nicht nur beim Grippeschutz - an den Pranger zu stellen. Die Spendenaktion markiert nur den vorläufigen Höhepunkt von Goschs schon lange währendem Aufbegehren gegen die beschriebene ungleiche Praxis bei der Behandlung dieses und jenes Patienten.
Er trifft damit mitten hinein in ein äußerst besorgtes Gefühl sehr vieler Menschen, die sich - vielleicht beim monatelangen Warten auf einen Facharzttermin oder im Angesicht der letzten Zahnarztrechnung - fragen: Wohin führt\'s? Umso dankbarer nehmen sie zur Kenntnis, wenn ein Praktiker davor warnt, dass Wirtschaftlichkeit vor Gesundheit und Monetik vor Ethik geht.
Was das Problem vor Ort betrifft, hilft eben kein Verweis auf hungernde Kinder in Afrika. Der Vergleich wäre mehr billig als recht, was uns selbstredend nicht von der Verantwortung entbindet, über den eigenen Tellerrand hinaus in die Welt zu blicken. Gunther Gosch tut das eine, ohne das andere zu lassen. Ungleich mehr Geld als für die symbolische Magdeburger Impfkampagne sammelte er gemeinsam mit vielen Unterstützern für den Schutz von Kindern in Afrika und Asien ein. Ein Ziel, dem sich die Rotary Clubs weltweit - die Weltgesundheitsorganisation und das Kinderhilfswerk UNICEF an ihrer Seite - verschrieben haben, ist die Ausrottung der Poliomyelitis, kurz Polio, zu deutsch Kinderlähmung. Dem Rotarier Gosch kommt es glaubhaft weniger darauf an, sich mit der schicken Anstecknadel zum Zeichen seiner Mitgliedschaft im ebenso einflussreichen wie mildtätigen Club zu schmücken, als vielmehr darin nützlich zu sein. 2008 begründete der erklärte Rockmusikfan, damals hatte er die Präsidentschaft in seinem Magdeburger Rotary Club inne, die Tradition der Rotary Polio Rocknächte in Magdeburg und spielte in der Folge mit drei Benefizkonzerten weit mehr als 60000 Spendeneuro ein, die aus Magdeburg auf das Konto der internationalen Impfkampagne flossen. Chapeau, Dr. Gosch!
Zum Schluss noch ein Schlag aus meinem wahren Leben - keine Sorge, nur weil er hierherpasst. Ich habe mich, das ist inzwischen mehr als zwei Jahre her, selbst an die Praxis Gosch gewandt und um einen Termin für meinen Sohn gebeten. Dr. Gosch ließ mich wissen, dass ich meinen Sohn wohl bei ihm vorstellen könne, bat aber zugleich um Verständnis für lange Wartezeiten: sehr viele kleine Patienten und viele darunter mit speziellen Problemen, wie auch mein Sohn eines hatte. Jedenfalls könne man da, so die sinngemäße Botschaft des Arztes an die besorgte Mutter, keine Extrawürste für Privatversicherte braten ... Huch, da hielt mich wohl einer für privat? Ich für meinen Teil - mit meinem Sohn schlicht Kassenpatientin - habe mich über die Ankündigung einer Gleichbehandlung in der Praxis sehr gefreut.
Ebenso freue ich mich heute, Herr Dr. Gosch, über Ihre Wahl zum "Magdeburger des Jahres 2012".
Herzlichen Glückwunsch!