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Geschichte Ein Held unserer Zeit

Andrej Sacharow war vieles: Physiker, Atomforscher, Menschenrechtsaktivist, Dissident und Nobelpreisträger. Vor 100 Jahren wurde Sacharow in Moskau geboren.

Von Andrea Krogmann (KNA) / Uwe Kreißig 21.05.2021, 15:21
Andrej Sacharow im Februar 1980 in seiner Wohnung in Gorki (Nischni Nowgorod) während seiner Verbannung.
Andrej Sacharow im Februar 1980 in seiner Wohnung in Gorki (Nischni Nowgorod) während seiner Verbannung. Foto: UPI/dpa

Vom „Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe“ wurde er zum Verfechter von Abrüstung und dafür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Vom „Helden der Sozialistischen Arbeit“ entwickelte er sich zum Kämpfer für Bürgerrechte und für die Demokratisierung seines Landes – und damit zum Staatsfeind.

Am 21. Mai 1921 wurde Andrej Dmitrijewitsch Sacharow in Moskau geboren; ein Physiker, Atomforscher, Menschenrechtsaktivist und Dissident. Sacharow war ein Mann der Überzeugung. Religion gehörte nicht dazu. Überzeugt war er von der Entwicklung sowjetischer Nuklearwaffen. Nur ein Gleichgewicht zwischen der UdSSR und den USA im Wettrüsten könne beide Seiten von einem Krieg abhalten.

Nach Studium und Promotion arbeitet Sacharow zunächst unter Igor Kurtschatow, der die erste Atombombe der Sowjetunion konstruiert. 20 Jahre, von 1948 bis 1968, stellte er sein wissenschaftliches Genie in den Dienst des Nuklearprogramms seines Landes.

Größte Bombe aller Zeiten

1961 wird nach Sacharows Ideen die Wasserstoffbombe AN602 gebaut. Mit einem umgebauten Turboprop-Bomber Tupolew Tu-95 wird die Bombe am 30. Oktober 1961 über der Insel Nowaja Semlaj im Nordpolarmeer abgeworfen und gezündet. Es entsteht die größte, von Menschenhand gezündete Explosion aller Zeiten. Die Wasserstoffbombe hat eine Stärke von rund 4000 Hiroshima-Atombomben. Sacharow verzichtet sogar auf die maximale Stärke, um die Schäden durch die freigesetzte Radioaktivität zu begrenzen und den Piloten eine ausreichende Chance zu geben, sich weit genug vom Zentrum der Explosion entfernen zu können. Dennoch stürzt die Tu-95 fast ab und nur mit Mühe können die Piloten die Maschine landen.

Die Druckwelle der neuen sowjetischen Wasserstoffbombe zieht zweimal um den Erdball. Und Parteichef Nikita Chruschtschow ist begeistert. Spione überbringen die Nachricht, dass man im Pentagon in Washington geschockt ist. Die dortigen Analysten hatten nicht damit gerechnet, dass die sowjetische Nuklearrüstung schon so weit ist und offenbar über ein Flugzeug verfügt, dass diese Wasserstoffbombe auch abwerfen kann. Nach Sputnik 1 und dem Gagarin-Flug ist die Sowjetunion den USA nun in einigen, strategischen Punkten in dieser Zeit sogar voraus. Für eine kurze Zeit sieht es tatsächlich so aus, als wäre aus diesen Schlüsselmomenten der Technik eine Überlegenheit des kommunistischen Modells zu erkennen.

Bei Sacharow tritt dagegen zunehmend ein Umdenken ein. Allmählich wird er vom Star-Physiker zu einem der gefährlichsten Kritiker der Sowjetführung. 1968 veröffentlicht er sein „Manifest über Fortschritt, Koexistenz und geistige Freiheit“, in dem vor einer Gefahr eines totalen Vernichtungskriegs warnt. Genie und Überzeugung bringen dem Mann, den Zeitgenossen als sanft, zurückgezogen und introvertiert beschreiben, Höhen und Tiefen. Stalinpreisträger, mit 32 jüngstes Mitglied der sowjetischen Akademie der Wissenschaften, Mitglied im Lehrkörper von acht Universitäten, zweifacher Träger des Lenin-Ordens.

Er wird Volksfeind Nr. 1

Sacharow äußert nicht nur Zweifel am Atomprogramm seines Landes, er setzt sich auch zunehmend für Dissidenten ein, fordert eine Demokratisierung der Sowjetunion. 1970 gründet er ein Komitee zur Durchsetzung der Menschenrechte. Für die Regierung eine sich steigernde Provokation. „Für seinen Kampf für Menschenrechte in der Sowjetunion, für Abrüstung und Kooperation zwischen allen Nationen“ wird Sacharow 1975 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Sacharow selbst verfolgt die Zeremonie am Radio. Die Reise nach Oslo war ihm untersagt worden. Seine Frau Jelena Bonner nimmt die Auszeichnung für ihn entgegen.

Im Kreml ist man sich nicht einig, wie man mit dem „gefallenen“ Staatshelden Sacharow umgehen soll. Parteichef Leonid Breschnew ist in diesen Dingen keineswegs ein Hardliner, wie er im Westen häufig dargestellt wird – auch aufgrund eigener Erfahrungen. Den großen Terror Stalins hat Breschnew selbst nur knapp überlebt und wird - um die jahrelange Angst zu bekämpfen – tablettensüchtig. Ein Staatsgeheimnis.

Das Einsperren von Sacharow ist inzwischen undenkbar. Die Ausweisung wie bei Alexander Solschenizyn, dem Autor des Sachbuchs „Der Archipel Gulag“, mit dem dieser einen Weltskandal auslöst und die Wahrheit über den Sowjetkommunismus von 1917 bis 1953 verkündet, ist unmöglich. Sacharow ist immer noch ein Kenner der sowjetischen Nuklearbewaffnung und damit Geheimnisträger höchster Stufe.

Mit Sacharows Protest gegen den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan 1979 ist das Maß aber voll. Am 22. Januar 1980 verhaftet die sowjetische Führung Sacharow auf offener Straße und schickt ihn ohne Prozess in die für Ausländer verbotene Stadt Gorki (heute wieder Nishni Nowgorod). Alle Auszeichnungen und Ehrentitel werden ihm aberkannt.

Gorbatschow begnadigt ihn

Fast sieben Jahre lebt Sacharow in Isolation. Er schreibt seine Autobiografie. Dreimal soll der sowjetische Geheimdienst KGB sein Manuskript gestohlen haben. Sacharow schreibt ein viertes Mal. Die Meinungsfreiheit steht für ihn über allem. „Die Freiheit, Informationen zu erhalten und zu verbreiten, die Freiheit unvoreingenommener und furchtloser Debatte und die Freiheit von Druck durch Autorität und Vorurteile“, so formuliert es Sacharow.

Später wird er sich an den 15. Dezember 1986 erinnern. In dieser Nacht habe man ihm „ganz unerwartet ein Telefon installiert“. Einen Tag später klingelt der Apparat. Michail Gorbatschow bittet ihn, nach Moskau zurückzukehren. Die Verbannung ist aufgehoben.

Am 14. Dezember 1989 stirbt Andrej Sacharow an einem Herzinfarkt. Die Erinnerung an ihn ist stark, aber verblasst allmählich. Ein Filmprojekt, in dem US-Superstar John Malkovich Sacharow spielen soll, kommt – wohl aus finanziellen Gründen – nie zustande.

Eines bleibt für immer, folgt man dem Direktor des Moskauer Sacharow-Zentrums, Jurij Samodurow: Neben Solschenizyn und Gorbatschow sei er einer der drei Menschen, „die im vergangenen Jahrhundert den Weg Russlands von der Unfreiheit zur Freiheit spürbar beeinflusst haben“. (KNA/uk)

  Andrej Sacharow  mit seiner Frau, der Kinderärztin Jelena Bonner, im  Jahr 1986 in ihrer Moskauer Wohnung.
Andrej Sacharow mit seiner Frau, der Kinderärztin Jelena Bonner, im Jahr 1986 in ihrer Moskauer Wohnung.
Foto: dpa