Einsatz für die OSZE Mission Demokratie: Was ein Hallenser als Wahlbeobachter in Aserbaidschan erlebt hat
Frei und fair? Gleich und geheim? Rund um den Globus überwachen Wahlbeobachter regelmäßig den Verlauf von Abstimmungen. Einer von ihnen: Thomas Erling aus Halle. Was sein Einsatz mit der DDR zu tun hat.

Halle/MZ - Heute gilt der 7. Mai 1989 als einer der Tage, die vor 35 Jahren das Ende der DDR einläuteten. Bei den Kommunalwahlen dokumentieren Bürgerrechtler seinerzeit zahlreiche gefälschte Ergebnisse – der Unmut im Land wächst. Thomas Erling aber ahnt davon nichts. An jenem Sonntag darf der damals Achtjährige seine Eltern ins Wahllokal in der halleschen Südstadt begleiten, Polytechnische Oberschule „Hans Beimler“, längst abgerissen. Er erinnert sich an seine Vorfreude: „Mit zur Wahl zu gehen, für mich war das ein Ereignis!“ Doch seine Eltern bremsen seine Euphorie: „Wir haben doch gar keine echte Wahl.“
Es ist ein Satz, der hängen bleibt. 35 Jahre später steht Erling am 1. September dieses Jahres in einem Wahllokal im Bezirk Barda, Zentral-Aserbaidschan. Am Fenster steht die Landesflagge, davor auf einem Tischchen zwei Wahlurnen. Vorhänge in rot, blau und grün, den Landesfarben, trennen die Wahlkabinen ab. Eine Armbinde weist Erling aus als Wahlbeobachter der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Für Thomas Erling gibt es eine direkte Linie vom 7. Mai 1989 in der DDR zum 1. September 2024 in Aserbaidschan.
Als in Aserbaidschan ein neues Parlament gewählt worden ist, hat Thomas Erling aus Halle den Wahlprozess mit überwacht
Der Medienwissenschaftler und Ethnologe ist in Halle geboren und aufgewachsen, er hat die Ortsgruppe der globalisierungskritischen Organisation Attac mitbegründet. Später arbeitet er als Referatsleiter bei der Landeszentrale für politische Bildung, nun beim Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung. „Ich bin schon immer politisch interessiert und engagiert“, sagt er, „das habe ich meinen in der DDR oppositionell eingestellten Eltern zu verdanken.“ Mit ihnen erlebt er die Montagsdemos im Herbst 1989 mit, die Mahnwache in der Georgenkirche. „Das hat mich grundlegend geprägt.“
Aserbaidschan taucht in den deutschen Nachrichten in der Regel auf, wenn es um den Konflikt mit dem Nachbarland Armenien um die Kaukasus-Region Berg-Karabach geht. Oder, erst wenige Wochen her, als Aserbaidschan in seiner Hauptstadt Baku die Weltklimakonferenz ausrichtet. Wovon die Weltöffentlichkeit weniger Notiz nahm: Am 1. September wurde in der einstigen Sowjetrepublik ein neues Parlament gewählt.
Ich bin schon immer politisch interessiert und engagiert, das habe ich meinen in der DDR oppositionell eingestellten Eltern zu verdanken.
Thomas Erling, Wahlbeobachter aus Halle
Am Tag danach meldet die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf die staatliche Wahlkommission, die Regierungspartei des autoritär herrschenden Präsidenten Ilham Alijew habe die Abstimmung mit 68 von 125 Parlamentssitzen gewonnen. Die oppositionelle Musavat-Partei sprach demnach von „massenhaften Verstößen“ bei der Wahl. Weiter heißt es in der Meldung: „Keine der während Alijews 20-jähriger Regierungszeit abgehaltenen Wahlen wurde bisher von internationalen Beobachtern als frei eingestuft.“
Einer dieser Beobachter: Thomas Erling. Sieben Tage verbringt er im Spätsommer rund um den Wahltag in Aserbaidschan – ehrenamtlich. Sein Arbeitgeber gewährt ihm Sonderurlaub. Dazu gekommen ist Erling, so komisch es klingen mag, über eine Urlaubsbekanntschaft. In Mexiko erzählt ihm ein Deutscher im vorigen Jahr von seinen internationalen Einsätzen bei Wahlbeobachtungsmissionen. Das wäre auch was für mich, denkt Erling.
Der oberste Grundsatz für demokratische Wahlen lautet: Sie müssen frei, gleich und geheim sein
Ein mehrstufiges Bewerbungsverfahren und viele Briefings später – zu Standards demokratischer Wahlen, zur Rolle der Wahlbeobachter und zum Land selbst – steht er am 1. September in jenem Wahllokal im Bezirk Barda. Insgesamt zehn Wahllokale werden er und ein russischer Kollege an diesem Tag besuchen. Sie sind immer in Zweier-Teams unterwegs bei den Wahlbeobachtungsmissionen der OSZE, das ist die Regel.
Der oberste Grundsatz für demokratische Wahlen lautet: Sie müssen frei, gleich und geheim sein. So ist es in internationalen Abkommen festgelegt. Wahlbeobachter wie Thomas Erling müssen darauf achten, ob diese Standards auch eingehalten werden – oder ob es Unregelmäßigkeiten gibt. Ganz konkret: Sind die Wählerlisten vollständig? Die Urnen versiegelt? Läuft der Wahlprozess an sich korrekt ab? Oder gibt es Vorfälle, die, so sagt es Erling, „uns aufhorchen lassen“?
Aserbaidschan ist autokratisch regiert, die Verfassung gibt dem Präsidenten weitreichende Vollmachten
Aserbaidschan ist autokratisch regiert, die Verfassung gibt dem Präsidenten weitreichende Vollmachten. Das deutsche Außenministerium betont in einem Länderporträt, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit im Land seien „stark eingeschränkt“, die Tätigkeit von Nichtregierungsorganisationen „ebenfalls deutlich erschwert“. Menschenrechtsorganisationen berichten demnach von einer dreistelligen Zahl von Personen, die aus politischen Gründen inhaftiert sind.
In einem Bericht stellt die OSZE fest, die Parlamentswahl habe in einem restriktiven politischen und rechtlichen Umfeld stattgefunden und keine echten politischen Alternativen geboten. Demnach haben „übermäßig hohe Anforderungen“ die Kandidatenregistrierung beeinträchtigt. Auch hätten Bewerber von Einschüchterung berichtet und sich deswegen zurückgezogen. Zudem sei die Registrierung von Parteien durch neue Anforderungen weiter eingeschränkt worden.
Die Wahlbeobachter stellen in Aserbaidschan „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten“ fest, „insbesondere bei der Stimmenauszählung“
Die OSZE betont: Die Stimmabgabe an sich sei ordnungsgemäß und effizient organisiert worden. Allerdings stellten die Beobachter „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten und Unstimmigkeiten bei der Anwendung wichtiger Verfahren und Sicherheitsvorkehrungen“ fest, „insbesondere bei der Stimmenauszählung“. Es sind Beobachtungen, wie sie auch Thomas Erling und sein russischer Kollege gemacht haben. So berichtet Erling von einem Wahllokal, in dem sich Vertreter lokaler Behörden entgegen den Regularien an der Auszählung beteiligt hätten.
Nach dem OSZE-Bericht wurde die Auszählung in fast jedem zweiten der 92 beobachteten Wahllokale als negativ eingestuft. Demnach wurde etwa die Zahl der Unterschriften in den Wählerlisten oft nicht mit der Zahl der abgegebenen Stimmzettel abgeglichen. In 15 Fällen ergaben sich Hinweise auf bewusste Fälschungen in Wählerlisten oder Ergebnisprotokollen. In acht Fällen waren die Protokolle von Mitgliedern der lokalen Wahlkommission schon vor der Auszählung unterschrieben worden.
Die Vertreter der OSZE müssen strikt neutral sein. Die politischen Verhältnisse in Aserbaidschan darf Wahlbeobachter Thomas Erling aus Halle nicht öffentlich bewerten
Die Wahlbeobachter dürfen solche Vorfälle nur dokumentieren, eingreifen dürfen sie nicht, auch keine Kommentare abgeben. „Unsere Rolle ist rein passiv“, betont Erling. Als Vertreter der OSZE müssten sie strikt neutral sein. „Neutralität, das war die Kernbotschaft in allen unseren Briefings“, sagt Erling. Persönliche politische Positionen hätten außen vor zu bleiben. Auch im Gespräch mit der MZ mehr als drei Monate später darf er die Wahl, die politischen und rechtlichen Verhältnisse in Aserbaidschan nicht bewerten.
Erling findet das richtig. Nur dank dieses strikten Neutralitätsprinzips könnten in der OSZE Staaten aus unterschiedlichen politischen und Gesellschaftssystemen konstruktiv zusammenarbeiten. 57 Länder aus Europa, Nordamerika und Asien gehören der Organisation an, deren Wurzeln in der Ost-West-Entspannungspolitik der 1970er Jahre liegen. Die Aserbaidschan-Mission war vom OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte und von der Parlamentarischen Versammlung der OSZE organisiert worden; 34 Länder entsandten insgesamt 279 Beobachter.
Für Thomas Erling aus Halle war es der erste Einsatz als Wahlbeobachter. Geht es nach ihm, sollen weitere folgen
Generell gilt: Eine Wahlbeobachtungsmission ist nur dann möglich, wenn der betreffende Staat zustimmt. Auf überraschte Gesichter in den Wahllokalen sind Thomas Erling aus Halle und seine Kollegen daher auch nicht gestoßen. „Aserbaidschan war natürlich vorbereitet auf uns.“ In der Regel sei der Empfang in den Wahlräumen freundlich gewesen, respektvoll, „fast als würde man Gäste begrüßen“. Nirgendwo sei der Zugang eingeschränkt gewesen, weder zu Wahllokalen noch zu Informationen.
Für Erling war es der erste Einsatz als Wahlbeobachter. Geht es nach ihm, soll es nicht der letzte sein. „Ehrlich gesagt, ich möchte gar nichts anderes mehr machen“, sagt er lachend. Als Ethnologen fasziniere es ihn, in andere Gesellschaften einzutauchen. „Und ich kann einen Prozess unterstützen, der im besten Fall die Demokratie stärkt.“ Dann wird Erling nachdenklich. Beim Aufenthalt in Aserbaidschan sei ihm klar geworden, wie wertvoll eine freie demokratische Wahl sei. Eine Wahl, die seine Eltern nicht hatten, damals in der DDR.