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SPD-Bundestagsabgeordneter Burkhard Lischka über brandaktuelle Eindrücke aus dem Norden Afghanistans "Hauptfeind nicht die Taliban, sondern korrupter Staat"

25.06.2012, 03:38

Gestern früh kehrte Burkhard Lischka nach fünf Tagen in Nordafghanistan zwischen Mazar-i-Sharif und Kundus zurück nach Magdeburg. Volksstimme-Redakteur Steffen Honig sprach kurz danach mit dem SPD-Rechtspolitiker.

Volksstimme: Nach dem Hotel-Anschlag vom Freitag bei Kabul kann man nur sagen: Glückwunsch, dass Sie heil wieder da sind. Was haben Sie von der Taliban-Attacke mitbekommen?

Burkhard Lischka: Ich habe davon in Kundus erfahren, im dortigen Bundeswehrcamp. Dort werden solche Attentate natürlich sehr genau verfolgt und ausgewertet. Und Anschläge in Kabul haben eine besonders große öffentliche Wirkung. Die Niederschlagung des Taliban-Angriffs auf das Hotel hat gezeigt, dass afghanische Sicherheitskräfte zunehmend in der Lage sind, eigenständig zu operieren. Die Bundeswehr etwa tritt zunehmend in die zweite und dritte Reihe zurück und beschränkt sich auf Luftaufklärung sowie den Einsatz von Kampfhubschraubern.

Volksstimme: Haben Sie sich persönlich sicher gefühlt in Afghanistan?

Lischka: Bei unserer Gruppe, dazu zählten noch mein Fraktionskollege Ulrich Meßmer und zwei Mitarbeiter, kann ich sagen: Wir fühlten uns nicht bedroht, allerdings haben wir uns im Bundeswehr-Bereich im vergleichsweise sicheren Nordafghanistan bewegt.

Volksstimme: Sie waren bereits vor zwei Jahren in Afghanistan - was hat sich nach ihrer Wahrnehmung verändert?

Lischka: Ich war damals zwar in anderen Gebieten - an der pakistanischen Grenze und in Kabul, aber mir ist positiv aufgefallen, dass sich bei den afghanischen Sicherheitskräften einiges getan hat. Die Planzahlen - 200000 Soldaten in der Armee sowie 150000 Polizisten - konnten erreicht werden.

"Spinnennetz von Stützpunkten."

Im Norden haben die Afghanen ein regelrechtes Spinnennetz von lokalen Polizeistationen geschaffen. Auch am ehedem gefährlichsten Kampfplatz der Bundeswehr, dem OP North in der Provinz Baghlan, dort wäre man vor zwei Jahren gar nicht hingekommen. Im Moment werden auf afghanischer Seite aber auch die Einflusssphären von Stämmen und Milizen nach dem Abzug abgesteckt. Die Bundeswehr ihrerseits ist inzwischen stark mit dem für Ende 2014 geplanten Rückzug der Kampftruppen beschäftigt - eine enorme logistische Herausforderung.

Volksstimme: Haben Sie Fakten dazu?

Lischka: Nach Deutschland zurückgeführt werden müssen allein 2100 Fahrzeuge und 8650 Container. Insgesamt sind 5,85 Millionen Einzelteile vom Maschinengewehr bis zum Reserverad zu transportieren. Der Stützpunkt Faizabad soll im Spätsommer vollständig geräumt sein, am erwähnten OP North gibt es eine deutliche Reduzierung von Truppenstärke und Material. Zum Abzug in Richtung Usbekistan und Tadschikistan werden befestigte und sichere Straßen gebraucht, die gibt es aber kaum.

Volksstimme: Wie ist das Verhältnis zwischen Bundeswehr und afghanischen Sicherheitskräften? In der Vergangenheit gab es Anschläge auf die Deutschen auch aus der Armee heraus.

"Viele leben in der Vergangenheit."

Lischka: Das Verhältnis, habe ich bei Gesprächen mit Bundeswehrangehörigen erfahren, ist sehr eng. Die Außenposten der deutschen Camps werden durch afghanische Sicherheitskräfte geschützt. Was nach den Auskünften fehlt, ist eine gute Koordination zwischen den afghanischen Sicherheitskräften selbst. Das liegt häufig an persönlichen Befindlichkeiten. Nach 40 Jahren Krieg hat jeder seine eigene Geschichte hinter sich, viele leben in der Vergangenheit.

Volksstimme:Der Abzug wirft seine Schatten voraus - wie haben Sie angesichts dessen die Stimmung in der Truppe empfunden?

Lischka: Ganz wichtig: Der Abzug betrifft die Kampftruppen, es bleiben deutsche Polizisten, auch aus Sachsen-Anhalt, und Entwicklungshelfer im Lande. Ich habe die Stimmung unter den Soldaten und Offizieren heute - im Zuge der schrittweisen Übergabe der Sicherheitsverantwortung - im Vergleich zu 2010 als deutlich entspannter empfunden. Wie es scheint, tragen die Bemühungen von Bundeswehr, Polizei und Entwicklungshelfern in Nordafghanistan Früchte. Im Süden und Osten des Landes ist es aber sehr viel unruhiger.

Volksstimme: Sie sind Jurist und haben sich auch über die Entwicklung von Recht und Gesetz informiert - Stichwort Rechtsstaats-Dialog. Ist nicht schon allein das Wort Rechtsstaat in Afghanistan eine Farce?

Lischka: Der Westen wollte aus Afghanistan lange eine rechtsstaatlich-demokratische islamische Musterrepublik machen. Davon muss man sich verabschieden. Im Gegenteil: Es ist nicht im Sinne des Westens, dem Land seine Vorstellungen von einem Staatswesen aufzwingen zu wollen. In den Dörfern Afghanistans herrscht der Ältestenrat, die Schura, - nach Stammesrecht und Scharia. Die formelle Justiz ist langsam und korrupt. Da sagen sich die Leute: Was soll ich lange auf einen teures Urteil warten, das im Dorf sowieso keiner akzeptiert?

Für die Bevölkerung sind es nicht die Taliban der Hauptfeind, sondern es ist ein Staat, der als korrupt und störend empfunden wird. Hier schlagen sich 40 Jahre Krieg nieder.

Volksstimme: Was passiert, wenn die ausländischen Kampftruppen weg sind?

Lischka: Ich sehe drei Möglichkeiten. Erstens kann es mittelfristig zu einem Bürgerkrieg kommen. Zweites könnte es einen gewissen Status quo geben, wenn die Einflusssphären abgesteckt und akzeptiert sind. Drittens schließlich ist es auch möglich, dass Afghanistan geteilt wird - in einen Norden und einen Süden.