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Stadtentwicklung Eigeninitiativen für Belebung von Dorfzentren

Mit Kreativität schaffen Einwohner in ihren Dörfern neue Begegnungszentren. So in einem ehemaligen Bahnhof im sächsischen Erlau.

20.08.2018, 09:54

Erlau (dpa) l Wenn Jana Ahnert früher aus dem Fenster über die Bahntrasse schaute, hatte sie die Ruine vor Augen – den Bahnhof von Erlau, der seit Jahren verrottete. "Irgendwie muss man mal was mit dem Bahnhof machen", habe sie sich gedacht. Zusammen mit ihrem Schwiegervater Wolfgang Ahnert, dem damaligen Erlauer Bürgermeister, ergriff sie die Initiative, wie sie erzählt. Seit einem Jahr ist das Gebäude wieder instand. Als "Generationenbahnhof" entwickelt sich der 1890/1891 erbaute Bahnhof zu einem neuen Zentrum des Miteinanders.

"Unser Kernpunkt war, dass die Leute sich zusammensetzen und miteinander reden", sagt Wolfgang Ahnert. Man habe im Nahverkehr keine Haltestellen mehr, eine Gaststätte gebe es auch nicht. "Da geht viel Kultur verloren, wenn die Leute nicht mehr miteinander reden." Aber Erlau hatte den Bahnhof, der seit 20 Jahren ungenutzt war und von Bäumen und Büschen umwuchert war. "Das war zugewachsen wie ein Dornröschenschloss." Der Bahnhof sei schon immer ein Treffpunkt gewesen, sagt der 68-Jährige.

Von der Idee 2003 vergingen zehn Jahre bis zur Entwurfsstudie von Architektin Jana Ahnert und einigen Studenten. Die Aufgabenstellung sei es gewesen, das historische Gebäude zu erhalten und eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln. An eine Umsetzung habe sie 2013 nicht geglaubt. "Ich dachte, das ist eine Übung für die Schublade", sagt die 43-Jährige.

2014 aber wurde der Verein Generationenbahnhof gegründet, die Gemeinde kaufte den Bahnhof von der Deutschen Bahn für einen Euro, im Mai 2015 lag die Baugenehmigung vor. Was fehlte, waren die Fördermittel, da die entsprechende Richtlinie erst im November beschlossen wurde. Am 10. Februar 2016 war Baubeginn. "Wir haben symbolisch einen alten Kachelofen umgeschubst", erzählt Wolfgang Ahnert.

Bei all dem waren die Erlauer in das Vorhaben einbezogen. "Für den Erfolg von Projekten muss man immer wieder alle ins Boot holen", betont Jana Ahnert. Es sei ihnen wichtig gewesen, es zu einem gemeinsamen Projekt mit den Bürgern zu machen.

Inzwischen beginnt sich das "Erlauer Wohnzimmer", ein Treff der älteren Generation, zu etablieren. Der Erlauer Maler Rolf Frank Müller stellt als zweiter Künstler bis zum 30. Dezember seine Werke dort aus. Vereine nutzen den Raum für Versammlungen.

Was in Erlau der Generationenbahnhof ist in Deersheim in Sachsen-Anhalt ein "Multifunktionales Dorfzentrum". Dahinter verbirgt sich eine ehemalige Scheune. Als 2012 der letzte Einkaufsmarkt im Ort schloss, taten sich die Dorfbewohner zusammen und bauten sie um. Neben einem Lebensmittelladen haben dort ein Café und eine Markthalle sowie eine viel besuchte Nähstube eine Heimat gefunden.

Hinter dem Projekt steht eine Genossenschaft, in der Bürgermeister Wolfgang Englert Aufsichtsratsvorsitzender ist. "Es war eine Art Risikoschritt, aber es hat sich gelohnt", bilanziert er. Deersheim ist ein Ortsteil von Osterwieck im Harz und hat rund 800 Einwohner. Das Zentrum wurde unter anderem mit dem Demografiepreis des Landes ausgezeichnet. Das Geheimnis sei, es nicht für den Ort zu machen, sondern mit dem Ort, sagt Englert.

Ein ähnliches Projekt gibt es im brandenburgischen Seddin (Landkreis Potsdam-Mittelmark). Dort wurde 2014 auf Initiative von Bürgern das multifunktionale Dorfzentrum DORV ("Dienstleistungen Ortsnahe Rundum Versorgung") gegründet. In dem ehemaligen Supermarkt sind nun ein Laden mit vorwiegend regionalen Produkten, ein Café und ein Veranstaltungsraum untergebracht.

In dem Laden können die meist älteren Bürger auch Geld abheben und Pakete abholen. Während das Café wirtschaftliche Ziele hat, wird der Veranstaltungsraum auf gemeinnütziger Basis von einem Bürgerverein betrieben. Dort werden Sportkurse und kulturelle Abende angeboten, zudem wird der Raum für politische Gremien und Bürgerversammlungen genutzt. So tagt dort auch die Gemeindevertretung.

Zu einem Kultur- und Gemeindezentrum hat sich über die vergangenen Jahre das Schloss in der Thüringischen Einheitsgemeinde Krölpa entwickelt. Teile des um 1730 erbauten Gebäudes seien schon lange als Schule genutzt worden, sagt Bürgermeister Jonas Chudasch (parteilos). "Da war es sinnvoll, das Schloss auch als ein Gemeindezentrum zu etablieren. Es ging dabei auch darum, eine mögliche Schulschließung wegen immer geringerer Schülerzahlen zu verhindern."

Über Jahre wurde das Gebäude, das der Gemeinde im Saale-Orla-Kreis gehört, zusammen mit dem Denkmalschutz in Schuss gebracht. Gut zwei Millionen Euro sind dafür bisher geflossen, schätzt Chudasch. Davon sei vieles durch Fördermittel finanziert worden. Der aktuelle Ausbau des Parkplatzes werde etwa zum Großteil mit EU-Geldern bezahlt.

Inzwischen werden in dem Gebäude nicht nur rund 100 Grundschüler unterrichtet, sondern auch viele Vereine der knapp 3000-Seelen-Gemeinde sind dort zuhause. In der 2012 angebauten Multifunktionshalle werden Sportkurse angeboten, ein Kulturverein holt dort mehrere Male jährlich Künstler und Musiker nach Krölpa. Auch wird die Halle für Gemeinde- und Privatfeiern genutzt.

In Erlau kamen zur Einweihung des Generationenbahnhofs der damalige Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) und sein sächsischer Amtskollege Thomas Schmidt (CDU). "Das ist für mich definitiv eine Erfolgsgeschichte. Nicht nur das Objekt selbst, sondern wie die Leute dort zusammengewirkt, die Lösung gesucht und das vor Ort entschieden haben", sagt Thomas Schmidt der dpa.

Als dritter und letzter Mieter nach einer Seniorentagespflege und einem ambulanten Pflegedienst zog im März dieses Jahres eine Zahnarztpraxis ein. "Es sollte Leben rein, Dienstleistungen, die fehlen und perspektivisch wichtig sind", erklärt Jana Ahnert.

2,3 Millionen Euro sind in den Generationenbahnhof geflossen. 700.000 Euro davon sind Fördermittel aus einem von der EU aufgelegten Programm zur Belebung des ländlichen Raumes. Laut vorherigen Berechnungen werde die Investition in zwölf bis 15 Jahren refinanziert sein, sagt Wolfgang Ahnert.

Während der Bauphase im September 2016 hat Peter Ahnert das Amt des Bürgermeisters übernommen. Der 41-Jährige, der mit Wolfgang und Jana Ahnert weder verwandt noch verschwägert ist, verteidigt den Anstieg der Baukosten von zunächst 1,2 Millionen Euro. Nach Einbeziehung des Außenbereichs hätten die Plankosten 1,9 Millionen Euro betragen. Nachträge habe es wegen des Hausschwamms im Gebälk und den Anbau für die Zahnarztpraxis gegeben. Dadurch sei auch zusätzliche Nutzfläche entstanden. "Hier ist kein Geld verbrannt worden", bekräftigt er, "wir müssen schauen, dass wir erhalten können, was unser Leben lebenswert macht."

Erlau ist der Hauptort der gleichnamigen Gemeinde aus neun Ortsteilen mit etwa 3300 Einwohnern. Für den Generationenbahnhof habe man zwei Kredite aufgenommen, sich aber nicht verschuldet. "Die Gemeinde ist nicht ruiniert durch das Projekt", sagt Peter Ahnert. Man habe genügend Rücklagen, um selbstständig handeln zu können, wenngleich die Fördermittel von 700.000 Euro noch nicht ausgezahlt worden sind. Nicht zuletzt sind an einem einst verfallenen Bahnhof rund 15 Arbeitsplätze entstanden.