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Terrorismus Bedrohliche „Turbo-Radikalisierung“

Die Chefs von Verfassungsschutz und BKA debattieren mit Innenpolitikern in Magdeburg die Terrorgefahr. Entwarnung gibt es nicht.

Von Steffen Honig 12.05.2016, 01:01

Magdeburg l Bisher ist Deutschland von einem islamistischen Anschlag verschont geblieben. Zwölf verhinderte oder fehlgeschlagene Versuche seit 2001 zeigen, dass dies kein Selbstläufer ist. Wie die unverändert hohe Gefährdungslage zu beherrschen ist, diskutieren mit Lischka in Magdeburg VerfassungsschutzPräsident Hans-Georg Maaßen, Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes, Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD), CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach und der ARD-Terrorismusexperte Michael Götschenberg.

Ein neuer Begriff macht den Sicherheitsbehörden in Deutschland schwer zu schaffen: „Turbo-Radikalisierung“. Das heißt, Salafisten und andere Extremisten haben bei der Rekrutierung von Nachwuchs immer schneller Erfolg. Minister Pistorius verweist darauf, dass generell „mehr Minderjährige“ und zunehmend auch Mädchen für islamistische Gewaltaktionen gewonnen werden. Bekanntestes Beispiel: Die Messerattacke eines 15-jährigen Mädchens im Februar dieses Jahres auf einen Bundespolizisten auf dem Hauptbahnhof in Hannover.

Verfassungsschutz-Präsident Maaßen verweist auf die Gefahr über Länder hinweg durch den Islamischen Staat und die Al-Nusra-Front als einem Al-Qaida-Ableger. Ohne diesen Einfluss wäre die 15-jährige nie so radikalisiert worden, meint Maaßen. Bei der Radikalisierung spielt das Internet eine große Rolle. Innenpolitiker Bosbach spricht von einer „Katastrophe für Eltern, wenn die Kinder an den Islamischen Staat verloren gehen“. ARD-Mann Götschenberg nennt die Zahl von fast 9000 Salafisten, die es in Deutschland gebe. „Die meisten suchen Orientierung, und die finden sie da“, betont der Journalist. Entgegenwirken könne beispielsweise der Islamunterricht in den Schulen.

Unter Gefährdern werden Personen verstanden, bei denen die hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie terroristische Gewalttaten begehen könnten. Knapp 500 von ihnen sind laut BKA-Präsident Münch derzeit erfasst. 70 von ihnen säßen im Gefängnis. Ohnehin würden sich nicht alle im Lande befinden. Das Problem sei die Mischung aus Gefährdern, die in Deutschland leben, den Rückkehrern aus Nahost und den als Flüchlingen getarnten Extremisten.

Sie alle ständig unter Kontrolle zu halten, ist praktisch unmöglich. Bosbach macht das plastisch, indem er erklärt, dass für die Observation eines Gefährders 20 bis 25 Beamte nötig seien. Werbung betrieben Salafisten auch unter Flüchtlingen: Rund 300 Fälle sind den Sicherheitsbehörden bekannt. Allerdings gibt es eine hohe Dunkelziffer. Das Gros der Flüchtlinge seien alleinreisende arabische Männer aus konservativen, armen Gegenden. Wie er erklärt, habe der Verfassungschutz daher 90 Moscheegemeinschaften in Deutschland im Blick, wo es den Verdacht gebe, dass Salafisten und andere Islamisten Flüchtlinge anlocken, um für ihre Ziele zu werben.

Bis zu den Anschlägen von Paris sei man davon ausgegangen, dass „unter den Flüchtlingen Terroristen sein können“, sagt Maaßen. Die Behörden hätten jedoch damit gerechnet, dass die Islamisten das Risiko von Überfahrt und Erfassung eher scheuen würden. Die Attentate in Frankreich hätten das Gegenteil gezeigt: Unter den Tätern waren zwei registrierte Flüchtlinge. Dies sei das politische Signal der Islamisten gewesen, dass sie sehr wohl in der Lage seien, Leute einzuschleusen, erläutert Maaßen.

Immer wieder beklagt wird die ineffektive europäische Zusammenarbeit bei der Terrorbekämpfung. Als Beispiel führt BKA-Chef Münch das Schengen-Infomationssystem an, das nicht einmal Fingerabdrücke enthalte. „Was fehlt, ist die europäische Vernetzung“, stimmt Minister Pistorius zu.

Eine Kooperation bringe nur etwas, „wenn man etwas hat für die Zusammenarbeit“, betont Verfassungsschutz-Chef Maaßen. Seit Anfang des Jahres hätten die europäischen Nachrichtendienste nun eine gemeinsame Plattform in Den Haag. Die „wertigsten Informationen“ habe er bisher von den Amerikanern bekommen, sagt der oberste Verfassungsschützer. „Wir brauchen eine internationale Vernetzung, richtige Rechtsgrundlagen und ein Mehr an eigener Informationsgewinnung.“ Eine europäische Behörde allerdings bezeichnet Maaßen als „Luftschloss“, da die Nachrichtendienste der einzelnen Länder nur an die eigenen Politiker berichten würden. Pistorius erklärt: „Wir brauchen abgestimmte Verfahren – Datenschutz hin oder her.“

Beim BKA sind laut Präsident Münch im Vorjahr 500 Gefährdungshinweise eingegangen. Es gab fünf öffentliche Terrorwarnungen. „Nur die herausragenden Fälle werden überhaupt an politische Entscheidungsträger weitergegeben. Was dann geschieht, weiß Minister Pistorius aus eigener Erfahrung: Die Absage des Braunschweiger Karnevals- umzuges und des Länderspiels in Hannover passierten in seinem Bundesland. Zu Braunschweig sagt er heute: „Das war die schwerste Entscheidung meiner gesamten beruflichen Laufbahn.“ Er beschreibt das Wechselbad des Verantwortlichen: Wenn man in einem solchen Fall abends noch für seinen Mut gelobt werde, heiße es keine 24 Stunden später: War das nötig?

Die Gefahr des islamistischen Terrors gibt umgekehrt Rechtsextremisten in Deutschland deutlich Auftrieb. Terrorismus-Experte Götschenberg sieht die rechte Szene in einer Art „Kriegszustand“: „Die Gewaltbereitschaft ist sehr hoch, die Szene enorm motiviert.“ Dies zeige die Vielzahl der Übergriffe auf Flüchtlingsheime.Für Minister Pistorius ist das Thema Islamophobie „in die Mitte der Gesellschaft vorgerückt“. Pistorius hat ausgemacht, dass die Feindseligkeit dramatisch zunimmt, und stellt fest: „Rechtspopulisten tragen ihr Scherflein dazu bei, indem sie die Stimmung anheizen. Die Gesellschaft sei gefordert, den Mund aufzumachen.

Maaßen hält die Gefahr der Bildung von rechtsextremistischen Terrorzellen in Deutschland für sehr groß. Er verweist auf die „Oldschool Society“, die Bamberger Zelle und die Freitaler Gruppe von Rechtsterroristen – allesamt entsprechende Gruppen, die bereits aufgeflogen sind. Fazit des Verfassungsschützers: „Es geht etwas vor in der Gesellschaft.“