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Nazi-Zeit Einer der letzten Holocaust-Überlebenden

Nur noch wenige können aus erster Hand von den Grauen in den KZ berichten. Einer von ihnen ist Albrecht Weinberg.

Von Bernd-Volker Brahms 01.02.2019, 00:01

Berlin l Als am 27. Januar 1945 das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wurde, da befand sich Albrecht Weinberg mit anderen Leidensgenossen auf dem Weg Richtung Westen. Die SS hatte kurz vor Eintreffen der Russen das Lager weitgehend geräumt. „Ich habe drei Todesmärsche überlebt“, sagt der heute 93-jährige Mann, der in dem kleinen ostfriesischen Ort Rhauderfehn das Licht der Welt erblickte.

Zum Kriegsende kam er über das Lager Gleiwitz nach Mittelbau-Dora. Bei Nordhausen hatten die Nazis unter Federführung des Ingenieurs Wernher von Braun dort den Bau der V2-Raketen in einen Bergstollen verlagert. „Es war fürchterlich, ich war ein Muselmann, kein Mensch mehr“, sagt Weinberg. In keinem anderen Lager auf deutschem Boden sind derart viele Menschen in derart kurzer Zeit ums Leben gekommen.

Seine Befreiung in Bergen-Belsen bekam er gar nicht mehr richtig mit. Der Transport im Mai 1945 war bereits bis Hamburg gefahren und dann wieder umgedreht. Völlig abgemergelt war der damals 20-Jährige, wog nur noch 57 Pfund. Ein Gefühl von Befreiung kam nicht auf. „Man war doch nicht mehr normal. Ich meine, wenn meine Mutter neben mir gestanden hätte und umgekippt wäre, ich hätte sie liegenlassen. Du warst nicht mehr kräftig genug und geistig und seelisch kaputt. Man war ein Tier, man war kein Mensch, man wurde heruntergearbeitet zum Wurm, zum Nichts“, sagt er.

Gestern war Albrecht Weinberg im Bundestag dabei, als in einer Gedenkstunde der Opfer des Nationalsozialismus gedacht wurde. „Sind die Rechtsradikalen auch da“, fragt er und meint die Abgeordneten der AfD. Er nimmt Platz in der letzten Reihe der Ehrentribühne. Eine CDU-Abgeordnete aus seiner Heimat hat ihn eingeladen. Er wundert sich ein bisschen, dass auch einige Männer mit Kippa in den Reihen zu sehen sind. Jüdisches Leben in Deutschland ist nicht mehr selbstverständlich.

Albrecht Weinberg hat 60 Jahre in New York gelebt, 2012 kam er ins ostfriesische Leer zurück. Seine Schwester lag im Sterben, er war mit der Situation überfordert. Freunde aus Deutschland halfen. „Die Menschen sind heute anders“, sagt er. 1985 ist er erstmals wieder nach Deutschland gekommen, zu einer Begegnungswoche mit zahlreichen Holocaust-Überlebenden und auch schon vielen Nachfahren.

Wenn er heute irgendwo eingeladen wird, dann ist er zumeist der einzige, der ein Lager überlebt hat. In den vergangenen Jahren ist er auch immer beim Befreiuungstag beim KZ Mittelbau-Dora gewesen. „Zuletzt waren wir nur noch fünf“, sagt er. Seit Albrecht Weinberg wieder in Deutschland ist, geht er regelmäßig in Schulen und erzählt von seinem Schicksal. „Wenn ich fertig bin, ist es immer totenstill“, sagt er.

Ein Gedenken im Bundestag gibt es seit 1996. Der damalige Bundespräsident Roman Herzog hatte diesen Gedenktag zum 27. Januar eingeführt, der mittlerweile internationaler Gedenktag zum Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz ist. Von jeher hatte es Überlebende gegeben, die mit einer Rede im Bundestag an die Schrecken des Holocaust erinnern.

Unter anderem waren es Schriftsteller und Nobelpreisträger wie Elie Wiesel (2000), Jorge Semprun (2003), Imre Kertesz (2007) und Ruth Klüger (2016). Doch Gastredner zu finden, die wie die zuvor Genannten die Lager überlebt hatten, ist nahezu unmöglich geworden. Der Historiker Saul Friedländer, der gestern im Bundestag sprach, ist 86 Jahre alt und überlebte den Krieg als Kind versteckt in Frankreich.

Selbst diejenigen, die als 15- oder 16-Jährige in die KZ kamen, sind heute mindestens um die 90 Jahre alt. Albrecht Weinberg war 18 Jahre, als er dies erleben musste – ebenso wie seine zwei Jahre ältere Schwester Friedel und sein drei Jahre älterer Bruder Dieter. Sie alle drei überlebten, fast der ganze der Rest der großen Familie kam um.

Nur wenige Vettern und Cousinen und eine Tante kamen davon. Neben großen Zufällen sei es auch sein Glück gewesen, nicht allzu groß zu sein. „Sie nannten mich Krümel.“ Groß gewachsene Häftlinge seien oft nach kurzer Zeit „hinüber“ gewesen, wie er sagt. Sie hätten einfach zu viel zu essen gebraucht, was es nicht gab.

Zwei Jahre lang musste er in Auschwitz leiden. „Ausgerechnet an Hitlers Geburtstag sind wir dort angekommen“, erzählt er. Am 20. April 1943 erreichte der 37. Osttransport von Berlin aus das Vernichtungslager. 1000 Menschen waren in den Waggons, 299 Männer und 158 Frauen wurden für die Arbeit aussortiert, wie historische Unterlagen belegen.

„Der Rest kam ins Gas“, wie Weinberg sagt. Sie hätten ja gar nicht gewusst, wo sie dort gelandet waren. Es sei von den Kapos geschrien worden „Raus, raus, raus“, als sie in den Waggons ankamen. Kapos waren selbst Häftlinge, sie waren von der SS für die Arbeit eingeteilt worden. Weinberg wurde die Nummer „116. 927“ tätowiert. „Jeden Morgen, wenn ich mich wasche, werde ich daran erinnert“, sagt er.

In Berlin hat er sich eine Woche lang Orte angesehen, die mit seinem Leben zu tun hatten. So war er am Gleis 17 am Bahnhof Grunewald. Dort war vor fast 76 Jahren sein Transport mit Juden aus Berlin in Richtung Auschwitz abgefahren.

Auch die Kirchstraße 22 hat er besucht, dort waren seine Eltern 1942/43 in einem sogenannten Judenhaus untergebracht worden, nachdem sie Ostfriesland verlassen mussten. Unter Todesangst hatten seine Schwester Friedel und er die Eltern und den Bruder irgendwann Anfang 1943 besucht. Sie selbst waren in einem Arbeitseinsatz in Fürstenwalde gewesen. „Wir haben unsere Judensterne versteckt und sind mit der Bahn hingefahren“, erzählt Weinberg. Es war, das letzte Mal, dass sie die Eltern sahen. Sie wurden nach Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet.

Bereits vor einer Woche hatte Weinberg Schüler des Gymnasiums seines Heimatortes Rhauderfehn mit zur Konrad-Adenauer-Stiftung begleitet. Sie wurden dort bei dem Wettbewerb „Denkt@g“ ausgezeichnet. Die Schüler hatten sich unter anderem mit den Biografien der jüdischen Familie ihres Ortes auseinandergesetzt und auch eine Petition mit 2500 Unterschriften für eine würdevolle Nutzung des Synagogen-Platzes im benachbarten Leer initiiert.

„Die sind toll, die jungen Leute“, sagt Albrecht Weinberg. Er wünsche sich, dass einige von ihnen in die Politik gehen und „dann auch mal den Bundestag in Ordnung bringen“, wie er mit einem Schmunzeln sagte. 2017 bekam Weinberg für seinen aufklärerischen Einsatz das Bundesverdienstkreuz.