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Tempo 30 Umstrittener Modellversuch in Berlin

Berliner Luft soll sie die Gesundheit gefährden. Eine Gegenmaßnahme des Senats sorgt nun für Aufregung in der Hauptstadt.

02.04.2018, 09:11

Berlin (dpa) l Wer als Autofahrer die Leipziger Straße in Berlins Mitte tagsüber passieren will, braucht gute Nerven. Auf mehreren Spuren quält sich die Blechkarawane unablässig von Kreuzung zu Kreuzung, es wird angefahren, gebremst, gehupt. Nun könnten 1160 Meter Asphaltbeton zwischen Gendarmenmarkt und Potsdamer Platz eine besondere umweltpolitische Bedeutung erlangen: Am 9. April wird hier Tempo 30 eingeführt, um die Stickoxidbelastung zu senken.

Der in der Hauptstadt heißdiskutierte Modellversuch wird bundesweit mit Aufmerksamkeit beobachtet. Denn zuletzt haben rund 70 deutsche Kommunen den in Europa geltenden NO2-Grenzwert von 40 Mikrogramm je Kubikmeter im Jahresdurchschnitt überschritten. Nun müssen sie unter dem Druck der EU-Kommission und Klagen der Deutschen Umwelthilfe die Werte senken. Im äußersten Fall drohen Fahrverbote für Diesel Fahrzeuge. Diese gelten als NO2-Hauptquelle in den Städten.

Bringt Tempo 30 sauberere Luft? Berlins Verkehrs- und Umweltsenatorin Regine Günther (parteilos/für die Grünen) zeigt sich überzeugt, dass so zumindest der Stickoxidausstoß an Straßen mit relativ geringen Überschreitungen gedrückt und der Grenzwert eingehalten werden kann. "In anderen Pilotprojekten konnten mit dieser Maßnahme die Emissionen um bis zu zehn Prozent reduziert werden", sagt sie. Grundlage für ihre Annahme sind Messergebnisse auf anderen Straßen, auf denen Tempo 30 aus Lärmschutzgründen eingeführt und die NO2-Belastung nebenbei mit erhoben worden war.

Bis Ende Juli sollen auf den Tempo 30-Versuch in der Leipziger Straße vier weitere Abschnitte an vielbefahrenen Hauptstraßen folgen: In der Potsdamer Straße (Tiergarten/Schöneberg), der Hauptstraße (Schöneberg), dem Tempelhofer Damm (Tempelhof) und der Kantstraße (Charlottenburg). Ein Jahr später will der Senat Bilanz ziehen und im Erfolgsfall das Tempo auf weiteren Hauptstraßen drosseln. Vorschläge für 13 Abschnitte liegen bereits in Günthers ihrer Schublade.

Wobei die Senatorin nicht von drosseln spricht, sondern von einer "Verstetigung des Verkehrs": Neue Ampelschaltungen sollen dazu beitragen, dass die Fahrzeuge weniger bremsen und wieder anfahren müssen – dabei fällt besonders viel Stickoxid an, so Experten.

Gemessen am Anteil der nun betroffenen 7,3 Kilometer am 5400 Kilometer umfassenden Straßennetz der Hauptstadt ist die Aufregung über den Tempo-30-Versuch besonders groß. Die Opposition wirft Rot-Rot-Grün "Autohasserpolitik" vor, die sich aus ihrer Sicht auch in anderen Vorhaben wie dem massiven Ausbau des Radwegenetzes manifestiert. Der CDU-Verkehrpolitiker Oliver Friederici spricht von einem "Programm für zusätzliche Staus". Bei vielen Autofahrern ist der Glaube an eine Verstetigung des Verkehrs wenig ausgeprägt in einer Stadt, in der die grüne Welle bisher kaum verbreitet ist.

Auch der ADAC sieht das Vorhaben skeptisch. Zu befürchten sei, dass der Verkehr nicht flüssiger werde, sagt Jana Wierik vom ADAC Berlin Brandenburg. Das sei für eine emissionsarme Fahrweise aber entscheidend. Grundsätzlich finde es der Autoclub aber gut, dass getestet wird. Die Bilanz werde dann zeigen, ob Tempo 30 was bringt.

Die Deutsche Umwelthilfe begrüßt die Tests. Wichtig sei allerdings, dass die Einhaltung von Tempo 30 auch ausreichend kontrolliert werde, sagt die Leiterin Verkehr und Luftreinhaltung der Organisation, Dorothee Saar. Eine Temporeduzierung allein reiche indes nicht aus, um die Luftqualität zu verbessern.

Zwar ist die NO2-Belastung in Berlin niedriger als in Städten wie München, Stuttgart oder Köln. Aber nach EU-Maßstäben ist sie dennoch zu hoch. 2016 betrug der NO2-Jahresmittelwert laut Umweltbundesamt (UBA) 52 Mikrogramm je Kubikmeter, 2017 waren es 49 Mikrogramm. An einigen Stellen – gerade auch in der Leipziger Straße – lagen die Messergebnisse weit höher. Berlins Umweltverwaltung geht davon aus, dass fast 500 Hauptstraßenabschnitte mit einer Gesamtlänge von 60 Kilometern zu hohe Werte aufwiesen.

NO2 gilt als gesundheitsgefährdend. Einer UBA-Studie zufolge sterben in Deutschland jährlich 6000 Menschen vorzeitig an von Stickstoffdioxid ausgelösten Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Bei der Bewältigung des Problems fühlen sich viele Kommunen vom Bund alleingelassen. "Es ist frustrierend, dass sich die Bundesregierung auf die Seite der Automobilindustrie schlägt, statt die Gesundheit der Bürger zu schützen", sagt Senatorin Günther. Sie wirft Autokonzernen wie Volkswagen, die die Abgaswerte von Dieselautos manipuliert hatten, Betrug vor und hält eine Pflicht zur Nachrüstung dieser Wagen mit technischen Systemen für zwingend geboten. "Das wäre der Königsweg, um die Stickoxid-Belastung deutlich zu reduzieren." Doch die Automobilindustrie lehnt solche Hardware-Nachrüstungen ab, setzt vielmehr auf Software-Updates.

Ob die neue Bundesregierung aus Union und SPD mehr Druck macht, als die alte, bleibt abzuwarten. Die Hoffnung des Berliner Senats auf Besserung hält sich in Grenzen. Um die NO2-Belastung kurzfristig zu reduzieren, beschloss er ein Maßnahmepaket, das neben Tempo 30 etwa die Nachrüstung aller BVG-Busse mit Filtersystemen, ein Förderprogramm für emmissionsarme Taxis und mehr Ladepunkte für E-Autos vorsieht.

Sollten diese Maßnahmen nicht ausreichen, käme wohl auch Berlin um Fahrverbote zumindest auf hochbelasteten Straßen nicht herum. Das Bundesverwaltungsgericht hatte diese im Februar für zulässig erklärt. Mögliche Szenarien werden in der Verkehrs- und Umweltverwaltung bereits durchgespielt. "Wir bereiten uns darauf vor, dass auf bestimmten Straßen die Verstetigung des Verkehrs nicht ausreicht", sagt Senatorin Günther.