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Wirtschaftskrise Insolvenzverwalter erwartet Pleitewelle

Laut Insolvenzverwalter Lucas Flöther sind die Auswirkungen der Krise noch gar nicht sichtbar. Der Hallenser warnt vor Zombiefirmen.

02.11.2020, 10:05

Magdeburg l Lucas Flöther ist einer der bekanntesten Insolvenz­verwalter der Bundesrepublik. Der Sanierungsexperte begleitete in den vergangenen Jahren mehrere Insolvenzverfahren namhafter Unternehmen, darunter die Fluggesellschaft Air Berlin, der Internet-Konzern Unister und der Fahrradhersteller Mifa. Der 46-jährige Hallenser ist Sprecher des Gravenbrucher Kreises, einem Zusammenschluss von Insolvenz­verwaltern in Deutschland.

Herr Flöther, die Insolvenzzahlen lagen zuletzt deutlich unter denen des Vorjahres, dabei sind wir mitten in der Wirtschaftskrise. Wie ist das möglich?
Stimmt, es wirkt abstrus. Dabei gibt es verschiedene Gründe für die aktuellen Zahlen. Schon vor Corona hatten wir historisch niedrige Insolvenzzahlen wegen der guten Konjunktur und der niedrigen Zinsen. Es gab damals schon viele Unternehmen, die mit Hilfe billigen Geldes der Insolvenz immer wieder von der Schippe gesprungen sind. Dann kommt Corona. Und was macht der Gesetzgeber? Er setzt die Unternehmen unter Narkose.

Wie macht er das?
Etwa durch die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. So wurde verhindert, dass zahlungsunfähige oder überschuldete Unternehmen zum Insolvenzgericht laufen. Gerade die kleinen bis mittleren Unternehmen haben das zum Anlass genommen, erst einmal abzuwarten und zu hoffen, dass die Welt eine bessere wird. Deswegen stellen sie keine Insolvenzanträge, bis heute nicht.

Dabei ist die Antragspflicht bei Zahlungsunfähigkeit seit dem 1. Oktober wieder scharf gestellt ...
Ja, aber das ist in den Köpfen der Unternehmer noch nicht angekommen. Insbesondere bei den Unternehmen, die nicht so gut beraten sind, vor allem kleine und mittlere Unternehmen. Die größeren sind besser beraten, haben aber eher kein Problem, fällige Rechnungen zu bezahlen. Für sie wird es erst ab dem 1. Januar ernst, wenn die Antragspflicht wegen Überschuldung wieder scharfgeschaltet ist.

Wieso ist es Ihres Erachtens bei vielen Firmen noch nicht angekommen, dass sie bei Zahlungsunfähigkeit wieder Insolvenz anmelden müssen?
Ich höre nach wie vor selbst von mittelgroßen Unternehmen, dass ihnen das noch gar nicht bekannt war. Dabei hat es ernste strafrechtliche und zivilrechtliche Folgen – inklusive persönlicher Haftung des Geschäftsführers – wenn zahlungsunfähige Unternehmen keinen Insolvenzantrag stellen.

Ein Teil weiß es also schlichtweg nicht. Beim anderen Teil stirbt die Hoffnung zuletzt. Gerade kleine Unternehmen sind hier betroffen. Die sehen zwar, wie problematisch die wirtschaftliche Lage ist. Trotzdem kämpfen sie, bis die letzten Reserven aufgebraucht sind. Ein Phänomen, dem ich seit Jahrzehnten versuche entgegenzuwirken. Man sollte schließlich nicht erst zum Zahnarzt gehen, wenn der Zahn schon schwarz ist.

Wohin führt das in den kommenden Monaten?
Irgendwann ist die Kasse leer. Dann beginnen Vollstreckungsmaßnahmen, Gläubiger stellen Insolvenzanträge. Häufig sind das beispielsweise Finanzämter oder Krankenkassen. Und dann sind die betroffenen Unternehmen pleite – und das, ob sie es wollen oder nicht.

Werden die Insolvenzzahlen noch in diesem Jahr ansteigen?
Womöglich leicht. Ich erwarte aber keine große Pleitewelle vor dem Jahresende. Das Wecken des Patienten aus der Narkose geht nicht so schnell. Er wird langsam wieder wach.

Und im kommenden Jahr?
Da werden wir dann eine drastische Zunahme der Insolvenz­zahlen haben. Das wird nicht auf einen Schlag kommen, die Welle steigt langsam an. Ich glaube aber, es wird heftig. Zumal es derzeit nicht so aussieht, als könnten wir nächstes Jahr wieder zur Normalität zurückkehren.

Welche Branche wird es treffen?
In einigen Bereichen ist das Geschäftsmodell weggebrochen. Ich denke da an die Touristikbranche, an Reisebüros, Hotels oder Airlines. Ich denke an den Einzelhandel, der massiv leidet. An Automobilzulieferer, von denen viele schon vor Corona keine positive Prognose hatten. In diesen Branchen werden Unternehmen wahrscheinlich nach der Corona-Pandemie nicht wieder an das anknüpfen können, was vorher war. Wenn sich das Geschäftsmodell nicht mehr trägt, hilft auch kein Überbrücken mit Staatsgeld oder Kurzarbeitergeld. Das führt dann insgesamt nur zum Aufbau einer Bugwelle. Deswegen müssten uns die derzeit niedrigen Insolvenzzahlen fast noch unruhiger machen als leicht erhöhte Zahlen. Denn die würden dem derzeitigen Zustand der Wirtschaft entsprechen.

Waren die Einschränkungen im Insolvenzrecht falsch?
Zu Beginn der Krise war diese Aussetzung der Antragspflicht richtig und wichtig. Sonst wären wahrscheinlich viele Unternehmen kopflos zu den Insolvenzgerichten gelaufen. Die Aussetzung kann aber kein Dauerzustand sein.

Es war nun höchste Zeit, die Antragspflichten für den Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit wieder scharf zu stellen, um ernste Schäden für die Volkswirtschaft zu vermeiden. Diese Antragspflichten sind nämlich keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Insolvenzverwalter oder Staatsanwälte. Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass der Geschäftspartner in der Lage ist, fällige Rechnungen zu begleichen. Dies ist ein wesentlicher Grundsatz einer funktionierendem Volkswirtschaft. Zombieunternehmen, die trotz Verschnaufpause keine Fortführungsprognose haben, gehören vom Markt genommen.

Werden wir bald mehr Zombiefirmen haben?
Sie weilen bereits unter uns. Wenn ich Unternehmen künstlich am Markt halte, schaffe ich Zombies. Und darunter gibt es kleine, mittlere und auch ganz große.

Welche Folgen hat es, wenn sie am Markt bleiben?
Dazu ein Beispiel aus meiner täglichen Praxis: Eine Großbäckerei hat schon vor Corona Probleme mit ihrem Geschäftsmodell, verkauft ihre Brötchen für weniger als den Selbstkostenpreis. Die daraus resultierenden Verluste werden jetzt über Corona-Kredite abgefangen, zudem nutzt der Betrieb die Aussetzung der Antragspflicht und Kurzarbeit. Am Geschäftsmodell hat sie nichts geändert. Die Bäckerei verkauft ihr Brot weiterhin zehn Prozent unter den eigentlichen Kosten. Dieses Zombieunternehmen macht dann Wettbewerbern, die nachhaltiger denken und keine Darlehen aufgenommen haben, enorme Konkurrenz. Zombiefirmen verzerren den Wettbewerb und schaden gesunden Unternehmen.

Das Kurzarbeitergeld wird als Kriseninstrument von vielen grundsätzlich befürwortet. Von Ihnen auch?
Es ist ähnlich wie mit dem Staatsgeld und den ausgesetzten Insolvenzantragspflichten. Es war wichtig zu Beginn der Krise. Aber es kann kein Dauerzustand sein. Es ist eine punktuelle Maßnahme, um die vor­übergehende Krise abzumildern. Deswegen sehe ich die Verlängerung eines erleichterten Zugangs zum Kurzarbeitergeld bis zum Ende des Jahres 2021 skeptisch. Das trägt zur Zombifizierung der Unternehmen bei.

Der Beginn des ersten Lockdowns ist nun gut ein halbes Jahr her, jetzt ist der zweite da. Wann erreichen wir das Tal der dadurch ausgelösten Wirtschaftskrise?
Die wirklichen Auswirkungen sehen wir noch gar nicht. Wir sehen momentan nur die Spitze des Eisbergs. Derzeit ist alles eingefroren. Den echten Schaden, und ich glaube, es ist ein massiver Schaden, sehen wir frühestens im nächsten Jahr.