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Ausstellung Befreite Eispferde

Salzwedel erlebt die Deutschland-Premiere einer außergewöhnlichen Antikriegsinstallation.

Von Arno Zähringer 06.11.2016, 00:01

Salzwedel l Eine Nacht im Winter 1941 an den Gestaden des Ladogasees in Karelien: Finnische Truppen schließen ein russisches Artillerie-Regiment ein, das Pferde zum Transport von Waffen benutzt. Die Finnen setzen die Wälder in Brand und tausend verängstigte Pferde galoppieren in Panik in den See. Dort schlagen sie dicht an dicht gedrängt mit den Hufen aus, während sie voller Schrecken auf das brennende Ufer starren. In jener Nacht fegt ein eisiger Sturm von Murmansk über den Ladogasee. Innerhalb von Stunden gefriert seine Oberfläche zu Eis. Die Tiere verenden jämmerlich.

„Der See war wie eine unendlich weiße Marmorplatte, auf welcher Hunderte und Aberhunderte von Pferdeköpfen gestellt waren. Sie sahen aus wie durch den scharfen Schnitt einer Henkerklinge abgetrennt. Nichts als die Köpfe schaute aus der Eiskruste hervor. Alle Köpfe waren dem Ufer zugewandt. In den weit geöffneten Augen stand noch die weiße Flamme des Entsetzens. Nahe dem Ufer ragte ein Gewirr aufgebäumter Pferde aus dem Eisgefängnis heraus.“ So beschreibt Curzio Malaparte in seinem Roman „Kaputt“ die Szenerie.

Ob sich die Geschichte auch so zugetragen hat, ist offen. Malaparte selbst hat auf diese Frage in einem Interview geantwortet: „Ich bin freier Autor und auf simple Wahrheiten nicht angewiesen.“

Für André Prah, in Schweden lebender Künstler, ist der Wahrheitsgehalt nicht von allzu großer Bedeutung für seine Arbeit. Er kam 1944 als Flüchtlingskind aus Jugoslawien nach Schweden. Von seinem Vater, der am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatte, hörte er viele Geschichten über den Krieg. „Ich bin ein Kind des Zweiten Weltkrieges. Und nun, da ringsum Nazi-Ideologie erneut Brände entfachen will, halte ich es für meine Pflicht, die Pferde und ihren brutalen Tod zu zeigen“, sagt er.

Der 1941 im slowenischen Maribor geborene Prah studierte an der Kunstakademie Stockholm, arbeitete sechs Jahre als Kunstlehrer an Gymnasien. Danach startete er eine beeindruckende Karriere als politischer Journalist, zeichnete Karikaturen für zahlreiche Zeitungen, darunter für die New York Times.

Das Buch „Kaputt“ von Malaparte, schon 1944 erschienen, lernte er 2010 kennen, als der Roman ins Schwedische übersetzt wurde. Malaparte (1898 in Prato nahe Florenz geboren) heißt eigentlich Kurt Erich Suckert, war Sohn eines deutschen Vaters und einer italienischen Mutter, arbeitete als Journalist und starb 1957. Verstörend poetisch und grausam zugleich vergegenwärtigt der Roman die rohe Landschaft des Krieges.

Malapartes Werke erreichten Auflagen in Millionenhöhe und wurden in viele Sprachen übersetzt. „Kaputt“ beschreibt nicht nur die Arroganz des Faschismus und dessen leere und grausame Rhetorik, sondern erweitert seine Analyse auf den Selbstbetrug einer – wie die Pferde im Ladogasee – im Eisgefängnis der eigenen Ängste eingeschlossenen Gesellschaft, schreibt Literaturwissenschaftlerin Sabine Witt.

Der Roman hat André Prah fasziniert und inspiriert. „Seit 15 Jahren lebe ich als freier Künstler und bin genau wie Malaparte nicht auf simple Weisheiten angewiesen“, erzählt er. Und so kam er auf die Idee, die Geschichte der Eispferde am Ladogasee künstlerisch umzusetzen. Rund 450 Pferde hat Prah in den Jahren zwischen 2010 und 2015 geschaffen, täglich acht bis zehn Stunden gearbeitet. „Das Material dazu fand ich an den Ufern der Ostsee, wo seit Urzeiten das Salzwasser die Wurzeln abgestorbener Bäume sorgsam gewaschen und poliert hat.“

Seine Eispferde entsprechen nicht annähernd dem Bild, das gemeinhin von Rössern gezeichnet wird. Ihnen fehlen Eleganz, Anmut, ausgeglichene Proportionen. Doch darauf hat es Prah auch überhaupt nicht abgesehen. Vielmehr zeigen seine Pferde die Verletzlichkeit des Lebens. Sie werden dadurch zum Sinnbild der Schrecken des Krieges, zeigen dessen unglaubliche Gewalt, die gnadenlos Angst und Panik verbreitet und den Tod bringt.

Die Eispferde, die André Prah buchstäblich wiederauferstehen lässt, verkörpern die Gräuel des Krieges. Und „das in einer kaum zuvor gestalteten Eindringlichkeit“ (Sabine Witt). Die Eispferde riefen geradezu nach Gestaltung durch die Bildende Kunst. Ihr Ruf wurde nun erhört, die Pferde sind endgültig befreit, schreibt Witt.

Uwe Friesel, in Salzwedel lebender Schriftsteller, sieht in der Beschreibung Malapartes die „Ungeheuerlichkeit, dass der Mensch unschuldige Tiere ohne Skrupel seiner Mordmaschine opfert“. Darin habe Prah jene lange gesuchte Schlüsselszene erkannt, die ihm erlaube, die Schrecken des Krieges in einer einzigen Metapher zusammenzufassen. Es gelinge Prah, immer wieder sterbende Pferde zu schaffen: „Wir sind unmittelbar betroffen von ihrem Anblick und wissen augenblicklich, hier hat unser ,Nie-wieder-Krieg!‘ Gestalt gefunden.“

In der Mönchskirche in Salzwedel wird am 17. November um 19  Uhr die Ausstellung „Die Eispferde vom Ladogasee“ eröffnet. 60 Pferde werden gezeigt. Auch André Prah wird zur Eröffnung aus Schweden anreisen. Anlass der Schau ist die 900 Tage dauernde Blockade von Leningrad, die vor 75 Jahren Jahren begann und mehr als eine Million Menschen das Leben kostete. Nur über den im Winter zugefrorenen Ladogasee konnte Leningrad versorgt werden. Die Blockade zählt zu den schwersten Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Die Ausstellung soll daran erinnern. „Wir machen das, weil wir es als so wichtig empfinden“, sagt Karl-Heinz Reck, von 1990 bis 2006 Landtagsabgeordneter und im Kabinett von Reinhard Höppner von 1994 bis 1998 Kultusminister. Hinter dem „Wir“ verbergen sich der Kunstverein Atelierhaus Hilm­sen und das Jenny-Marx-Forum Salzwedel in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Bei der bis Anfang 2017 geplanten Ausstellung in Salzwedel handelt es sich um eine Premiere in Deutschland. „Wir hoffen aber, dass sie noch in weiteren Städten gezeigt werden wird. Magdeburg und Schwetzingen in Baden-Württemberg haben bereits Interesse signalisiert“, erzählt Karl-Heinz Reck. Für André Prah würde sich damit ein „Traum erfüllen“.

Die Ausstellung „Die Eispferde vom Ladogasee“ ist vom 18.  November an täglich von 13.30 bis 16.30 Uhr in der Mönchskirche in Salzwedel zu sehen.