Krimiroman Todesschüsse auf den ABV
Am 1. September erscheint im Mitteldeutschen Verlag Halle eine dreiteilige „Best of“-Ausgabe authentischer Kriminalfälle in Sachsen-Anhalt.
Seehausen (vs) l 28. August 1973, Alfred-Kästner-Straße in Leipzig-Connewitz – Hinrichtungsgefängnis der DDR. Kurz vor Morgengrauen wird ein 24-Jähriger in den Todestrakt geführt. Dort wird ihm erklärt, dass das Urteil nun vollstreckt wird. Wenige Minuten später fassen zwei Begleiter Klaus Jemanke (Name geändert) links und rechts am Arm und bringen ihn in einen Nebenraum. In dem Moment, als er das leere Kellerzimmer betritt und wie alle Todeskandidaten vor ihm nicht damit rechnet, dass der Henker schon auf ihn wartet, fällt ein leiser Schuss. Der Verurteilte bricht nach dem Genickschuss tot zusammen. Der Schütze mit der Schalldämpfer-Pistole im toten Winkel hinter dem Häftling hat den Schlussstrich gesetzt unter den Seehäuser Polizistenmord, der von Anfang an auch ein politischer Fall war.
Eineinhalb Jahre zuvor, 12. Februar 1972, gegen 23 Uhr. Klaus Jemanke hat im Seehäuser „Ratskeller“ acht Bier und drei Kaffeelikör getrunken. Mit drei Bekannten verlässt er das Lokal. Unter ihnen Rudi Galle (Name geändert). Auf dem Heimweg zum Breiten Weg im Zentrum der Bördestadt kommt es wegen Nichtigkeiten zur Rangelei zwischen den Angetrunkenen. Dabei zerreißt Jemanke den Anorak von Galle.
Kurz darauf geht Jemanke die 15 Stufen zur Küche des Fachwerkhauses mit Anbau hinauf, in dem er mit seiner Mutter wohnt. Wenig später steht auch Galle in dem Raum. Er beschwert sich lautstark über die kaputte Jacke. Wieder braust Jemanke auf, nimmt zwei Messer aus dem Küchenschrank und dringt auf sein Gegenüber ein. Die Mutter des 22-Jährigen, Lucie Jemanke (Name geändert), schreit laut auf. Das stoppt den Sohn. Der Hilfsarbeiter aus dem Hydraulikwerk Seehausen lässt sich die Messer entwinden.
Jemanke gilt in der Kleinstadt als Rowdy. Acht Monate zuvor ist er gerade noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Er hatte am 21. Februar 1971 in Seehausen zwei Rentnerinnen überfallen und misshandelt und danach in einer Gaststätte des Ortes randaliert, dabei den Leiter mit einem Messer bedroht. Als der ABV Ekkehard Hagel (Name geändert) eintraf, bedrohte der Schläger den Polizisten mit einer Schere und entriss ihm die Dienstwaffe. Erst als ein VP-Helfer eingriff, gelang es, den angetrunkenen Wüterich zu bändigen.
Am 30. Juni 1971 erhielt der Seehäuser wegen vorsätzlicher „Körperverletzung und Beschädigung sozialistischen Eigentums“ einen Strafbefehl über 600 Mark.
Zumeist war es der Orts-ABV, Polizei-Unterleutnant Karl Laue (Name geändert), der den jungen Mann am Kanthaken nahm. In Seehausen war es bald herum: Laue hat einen Rochus auf den Rowdy. Er sehe den Unruhestifter am liebsten hinter Gittern. Und genau das befürchtet Jemanke, als der ABV am 13. Februar 1972, kurz vor 11 Uhr, in der Küche steht.
Noch in der Nacht hätten seine drei Trinkkumpane bei ihm die Sache mit dem Anorak angezeigt, erfährt er von Laue. Jemanke empfängt den Mann in der grünen Uniform mit den Worten: „Was willst du blödes Schwein hier?“ Das macht das Maß beim ABV voll: „Was war gestern nach der Kneipe los? So geht das mit dir nicht weiter“, schreit Laue, dreht sich um und will wieder gehen. „Die Sache habe ich sowieso schon dem Kreis gemeldet“, fügt er an, da bekommt der 59-Jährige den ersten Schlag. Er wehrt sich, wird jedoch niedergeschlagen. Jemanke reißt ihm die Makarow aus der Pistolentasche.
Der Polizist versucht, sich am Arm des jungen Mannes hochzuziehen. Der schleudert ihn mit dem Rücken gegen den Küchentisch. Dann drückt er aus etwa einem Meter Entfernung ab. Da der ABV keine Reaktion zeigt, schießt er in die Wand, um zu testen, ob Platzpatronen in der Waffe sind. Als der 22-Jährige noch interessiert das Einschussloch im Mauerwerk betrachtet, hört er Laue stöhnen: „Frau Jemanke, ich sterbe, Hilfe, Hilfe, jetzt hat er mir in den Bauch geschossen.“
Der Polizist taumelt durch die Küche, hält sich den Bauch. Da schießt der Mörder ein zweites Mal – aus eineinhalb Metern in den Rücken. Der Grauhaarige fällt auf die Türschwelle.
Weil das Opfer Polizist ist und nach DDR-Rechtsprechung ein „Angriff auf den Staat“ vorliegt, übernimmt die Ermittlungsabteilung (IX) der MfS-Bezirksverwaltung schnell die Untersuchungen. Wer der Täter ist, liegt auf der Hand. Jemanke wird noch am Tattag in Schermen bei Burg festgenommen.
Bei seiner letzten von 32 Vernehmungen am 7. März 1973 unterschreibt Jemanke ein umfassendes Geständnis. Die politische Tragweite und die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind ihm wohl nicht bewusst. Am 23. März 1973 spricht die Vorsitzende des I. Strafsenats des Bezirksgerichts Magdeburg das Urteil: „Wegen Mordes in Tateinheit mit Terror in besonders schwerem Fall, versuchten Mordes und Verstoßes gegen das Waffengesetz“ wird Klaus Jemanke zum Tode verurteilt.
Für zwei Seehäuser hat der Prozess ein Nachspiel. Bürgermeister Gerhard Schildt und der Sekretär des Rates der Stadt, Walter Brennecke, hatten das Todesurteil im Seehäuser „Ratskeller“ als ungerecht kritisiert. Man hätte berücksichtigen müssen, dass der ABV „den Jemanke bis zur Weißglut gereizt hat“. Beide meinten, „15 Jahre hätten gereicht“. Ein Kraftfahrer der SED-Kreisleitung Wanzleben denunzierte die Funktionäre. Umgehend wurden sie vor die Kreisparteikontrollkommission zitiert und ihrer Ämter enthoben. Beide durften sich „in der Produktion bewähren“.
(Stark gekürzt aus „Die Rohrleiche von Graben 13“)