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Im Gespräch mit Karin Gastell über den Künstler John Cage und das bevorstehende Festival in Halberstadt "Hier ist seine Kunst ein ständiges Ereignis"

25.08.2012, 03:14

In Halberstadt haben sich Enthusiasten dem Künstler John Cage verschrieben. Dort wird das langsamste Musikstück der Welt aufgeführt, dort wird der vor 20 Jahren verstorbene Cage zum 100. Geburtstag mit einem internationalen Festival geehrt. Mit Festivalintendantin Karin Gastell hat Grit Warnat gesprochen.

Volksstimme: Frau Gastell, Sie sind Gründungsmitglied der John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt. Sie wurden nicht selten belächelt für ORGAN2/ASLSP, ein Projekt, das 639 Jahre dauern wird. Sind die Lächler nach mittlerweile elf Jahren weniger geworden?

Karin Gastell: Es ist unglaublich, dass diese utopische Idee verwirklicht werden konnte. Wir haben in der Stadt eine breite Zustimmung erfahren, viele Menschen haben sich vom Cage-Virus infizieren lassen. Längst ist es ein Projekt geworden, in dem sich Halberstädter und internationale Gäste begegnen. Und wir haben viele Besucher, 10000 jährlich, die von Cages Musik fasziniert sind.

Das ist eine Botschaft des Projektes: Cages Musik kann hier von jedermann jederzeit neu erfahren werden. Das Radikale ist, dass der Klang an sich erlebt werden kann in einer noch nie dagewesenen Nachhaltigkeit. Dass das Projekt im Rahmen des Festivals als "Ausgewählter Ort 2012 im Land der Ideen" ausgezeichnet wird, ist für uns auch eine erneute Bestätigung, wie wertvoll eine generationenübergreifende Vision ist.

"Es ist das erste Mal, Musik auf solch einen Zeitraum auszudehnen"

Volksstimme: Wie viel Mut gehörte dazu, dieses Projekt anzugehen? Schließlich werden wir alle nur einen ganz kleinen Teil des Projektes erleben können.

Gastell: Wir schauen auf elf Jahre Aufführungsgeschichte und zwölf Klangwechsel zurück. Das ist an der Gesamtdauer gemessen eine kurze, für uns aber schon erstaunlich lange Zeit, die verbunden ist mit geschichtlichen und persönlichen Ereignissen. Vor allem aber wollen wir in die Zukunft schauen. Luthers Hoffnungssatz ist, "wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute ein Apfelbäumchen pflanzen". Diese Hoffnung schwang auch beim Gründungsgedanken mit.

Volksstimme: Sie sind Bremerin. Wie kommen Sie zu Cage und nach Halberstadt?

Gastell: Durch eine Fachtagung der Orgelwelt in Trossingen. Ich hatte als Studentin daran teilgenommen. Hier wurde die Frage gestellt, wie langsam ist so langsam wie möglich. Ich war sofort begeistert. Mit dem Halberstädter Cage-Konzert gelingt es ja das erste und einzige Mal, Musik auf solch einen Zeitraum auszudehnen.

Volksstimme: Fans von Cage nennen sich Cageianer. Sie sind auch einer. Was zeichnet einen Cageianer aus?

"Diese Anschauung kann nicht nur der Musikwelt Orientierung geben"

Gastell: Bei Cage heißt es, wenn man sich einer Sache mit Hingabe widmet, wie beispielsweise dem Spiel eines einzigen Tones, und wenn man diese Sache mit anderen gemeinsam tut, ohne dass dabei der Druck des einzelnen Egos im Vordergrund steht, dann mache das euphorisch. Es entsteht eine Befreiung für den Menschen, für den Künstler, für den Hörer.

Volksstimme: Geht es beim Festival um diese Befreiung?

Gastell: Ja, das ist eine zentrale Frage. Es geht darum, dass nicht nur der Künstler Möglichkeiten zur Selbstentfaltung bekommt, auch der Hörer kann seine Wahrnehmung erweitern. In einem Wettbewerbskonzert bei uns heißt es, "was man braucht, ist Hingabe". Dieses Motto drückt Cages Grundhaltung aus. Für den Wettbewerb ein provokatives Leitmotiv, steht doch hier fast immer das Gegenteil, das Sich-Messen, im Vordergrund. Das Festivalprogramm kann auch zu der Frage anregen, ob man die Kunstauffassung Cages auf unsere Kultur insgesamt anwenden kann. Cage ging es um Freiheit. Stille, Konzentration, Achtsamkeit und unbedingter Respekt vor jedem anderen sind dafür notwendige Voraussetzungen. Diese Anschauung kann nicht nur der Musikwelt eine Orientierung bieten.

Volksstimme: Warum haben Sie sich für ein Festival entschieden?

Gastell: Bei einem 100. Geburtstag gibt es noch die Möglichkeit, Linien zu den Weggefährten zu zeichnen, zu direkt nachfolgenden Generation. Wir haben durch das Projekt viele Kontakte zu Zeitzeugen, wie Dieter Schnebel, der eng mit John Cage zusammengearbeitet hat und Präsident der John-Cage-Akademie in Halberstadt ist. In das Programm fließen diese sehr persönlichen Verbindungen ein. Und es geht um die Generation der Enkel, wie Hope Lee, Karin Hausmann und Hiromi Ishii, die von Cage inspiriert wurde, sowie um die allerjüngste Generation, die ebenfalls sein Schaffen schöpferisch weiterdenkt. Dabei soll Cage auch immer wieder neu interpretiert werden. Zum Beispiel haben sich drei Komponistinnen von unserem Kunstprojekt inspirieren lassen und sich im Kloster Isenhagen mit Cage und mittelalterlicher Musik beschäftigt. Diese neuen Werke werden bei einem Open-Air-Konzert mit Tanz präsentiert. Wir erhoffen uns etwas Volksfeststimmung.

"Hier werden die Menschen ein Stück- chen mit Cage groß"

Volksstimme: Volksfeststimmung ist für Festivals Neuer Musik eher selten. Solche Festivals treffen den Geschmack eines kleinen Publikums. Wen wollen Sie ansprechen?

Gastell: Keineswegs nur Spezialisten. In Halberstadt haben wir seit Anbeginn Kontakt zu einem interessierten Publikum von Kunstliebhabern, die keine reinen Experten für Cage sind. Mit ihnen waren wir immer im Dialog, für sie wird auch das Fest veranstaltet.

Volksstimme: Vielerorts wird in Deutschland, weltweit der Geburtstag von John Cage gefeiert. Er war nie in Halberstadt. Warum sollte man Ihr Festival besuchen?

Gastell: Weil die Stadt inzwischen viel mehr mit ihm und seinem Werk verbunden ist als andere Städte. Hier ist seine Kunst ein ständiges Ereignis. Hier werden die Menschen ein Stückchen mit Cage groß. Hier identifiziert man sich sehr stark mit ihm und seiner Kunst.

Volksstimme: Cage war Komponist, aber sein Name steht auch für bildende Kunst. Sie wollen Zeichnungen und Aquarelle ausstellen.

Gastell: Cage als bildnerischer Künstler steht normalerweise nicht gleich im Vordergrund, auch weil er mit dieser Identität gerungen hat. Bei seinen Zeichnungen und Aquarellen, für die er sich vom Zengarten im japanischen Kloster Ryoanji hat inspirieren lassen, wird man mit den für ihn typischen Zufallsprinzipien konfrontiert. Es sind Leihgaben des Staatlichen Museums in Schwerin.

Volksstimme: Die Ausstellung wird im Domschatz zu sehen sein, ein Ort, der normalerweise für das Mittelalter steht. Haben Sie bewusst andere Institutionen in das Festival einbinden wollen?

"Wir wollen den schönen Raum Halberstadt mit seiner Kunst füllen"

Gastell: Ja, wir gehen ganz bewusst in die Stadt hinein, um den schönen historischen Raum Halberstadts mit Cages Kunst zu füllen. Veranstaltungen sind im Dom, in der Moses-Mendelssohn-Akademie, der Martinikirche und in der Hochschule Harz. Wir haben als Partner auch die Musikhochschulen Bremen und Würzburg sowie die Alpen-Adria-Universität Österreich: 40 junge Musiker sind unsere Gäste, gestalten Konzerte und Gottesdienste mit.

Volksstimme: Sie sind stark vernetzt. Ist das ein Ergebnis der vergangenen elf Jahre?

Gastell: Viele der eingeladenen Künstler sind langjährige Freunde des Kunstprojektes. Weiterhin haben wir für das Fest bedeutende Kulturinstitutionen wie die Evangelischen Akademien gewinnen können. In diesem Zusammenspiel soll die zeitgenössische Kunst aus ihrer Nische herausgeführt werden, sich für ein breites Publikum öffnen. Inwieweit das zu unserer Festivalpremiere aufgehen wird, darauf sind alle Mitwirkenden gespannt.