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Peter Wawerzinek  Schriftsteller stellt in Magdeburg Film vor

Schriftsteller Peter Wawerzinek, 2015 Stadtschreiber von Magdeburg, hat einen Dokumentarfilm gedreht. Darin verarbeitet er sein Trauma.

Von Grit Warnat 12.07.2019, 01:01

Magdeburg l Dass er von seiner Mutter als kleines Kind alleingelassen wurde, ist sein Trauma. Der Schriftsteller Peter Wawerzinek, 2015 Stadtschreiber von Magdeburg, hatte den Schmerz schon in seinem mit dem Bachmann-Preis ausgezeichneten Text festgehalten. Jetzt folgt ein Dokumentarfilm. Wawerzinek kehrte zur Filmpremiere von „Lievalleen“ in die Landeshauptstadt zurück.

Er habe gedacht, mit „Rabenliebe“ das Thema abgearbeitet zu haben, sagt Wawerzinek. „Rabenliebe“ ist sein Roman von 2010. Darin erzählte der Autor sehr offen und ehrlich vom großen Schmerz, von den Eltern alleingelassen worden zu sein. Jetzt, fast zehn Jahre später, legt er nach. In einem Dokumentarfilm spricht Wawerzinek von den Vögeln im Geäst, die er Spürvögel nennt, die von ihm ausgeschickt sind, um nach der Mutter, nach dem Vater zu suchen.

Er war erst drei Jahre alt, seine Schwester gerade mal zwei, als die Eltern aus dem Haus in Rostock gingen und die Kinder sich selbst überließen. Mutter und Vater, das erfuhren die beiden Kleinen erst viele Jahre später, waren in den Westen abgehauen. Das war 1957. Weihnachten stand bevor.

Der Junge und das Mädchen wurden gefunden, aber ausein­andergerissen. Peter kam in ein Heim, Schwester Beate, weil für ihr Alter als rückständig eingestuft, in eine psychiatrische Klinik. Dass auch sie sich in dem Film öffnet, sei nicht selbstverständlich gewesen, erzählt Wawerzinek am Mittwochabend im Studiokino Magdeburg den Zuschauern. Drei Jahre habe seine Schwester nichts wissen wollen von dem Projekt, das dem Bruder so sehr auf den Nägeln brannte – und brennt. Bis heute ist er von der Mutterlosigkeit traumatisiert. Ihm fehle seine familiäre Heimat, sagt er.

In seinem Buch „Rabenliebe“ hat der in Berlin lebende Autor schonungslos dieses schwarze Loch der Abwesenheit beschrieben. Der Roman war sein Durchbruch als Schriftsteller. Er bekam für Textauszüge in Klagenfurt den renommierten Bachmann-Preis, zudem den Publikumspreis und anschließend einen Platz auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Der Volksstimme sagte er damals in einem Interview, er wollte sich so nackig wie möglich machen und kleinkindhaft, schutzlos der Mutter gegenübertreten. Aber die Mutter hatte sich nicht für das Manuskript interessiert, auch nicht für das Buch. Und den Film jetzt ebenso wenig.

Der Zuschauer spürt tief das Leiden eines Menschen, der zeitlebens hinterfragt, wie Eltern so etwas tun können. Aber Larmoyanz liegt dem Film fern. Im Buch gab es noch ein gewisses Selbstmitleid.

Dass Schwester Beate sich dann doch entschieden hatte, vor die Kamera zu treten und ihre Erinnerungen an die Kindheit wachzurufen, ist der Gewinn des Films. Das Geschwisterpaar, das sich im Kindesalter etliche Jahre nicht sehen konnte, geht gemeinsam auf Spurensuche. Heim, Pflegeeltern, psychiatrische Klinik. „Worauf bist du stinksauer?“, fragt Peter seine Schwester. Dass sie in all den Jahren in der Klinik nicht zur Schule gehen konnte, nicht lernen konnte, keine richtige Berufsausbildung bekam, ist ihre Antwort.

Später im Film besuchen beide die einstige Psychiatrie. Verlassene, traurige Räume. Beate schaut sich um und erzählt. Hier war sie einst weggesperrt. Dem Zuschauer sitzt ein Kloß im Hals angesichts der Nicht-Kindheit in einem psychiatrischen Haus in der DDR. Nicht alles ist so bedrückend. Es gab Menschen wie Erika Banhardt, genannt Bani, der im Film gut Zeit eingeräumt wird. Bani war Erzieherin, eine – das wird schnell klar – herzensgute Frau mit schönem Humor. Sie hat nicht nur die Kinderzeichnungen des kleinen Peter wohl verwahrt, sondern auch den Menschen Peter in ihr Herz geschlossen. Und er sie auch.

Man durfte skeptisch sein, ob denn Wawerzinek auch filmisch eine Umsetzung des Alleingelassenseins findet. Gemeinsam mit Regisseur Steffen Sebastian sind bemerkenswerte Bilder gelungen. Wawerzinek steht am Meer und blickt hinaus in die Weite, hin zum Horizont, wo die Eltern wohnen. Seine kraftvolle, poetische Sprache, er hat die Texte geschrieben, unterstützt die Bilder. Manchmal ist der Schnee da wie in seinem Roman („Es ist oft Winter in meinem Kopf“) oder der Zuschauer blickt mit dem Protagonisten immer wieder suchend aufs Meer. Er wollte seiner Mutter die Wunden zeigen, für die es keine Pflaster gibt. Doch er muss feststellen: „Es gibt die Auferstehung der Mutter nicht.“

Damals, bei Lesungen zu seinem Buch, um die 100 waren es in einem Dreivierteljahr, wollte Wawerzinek gar nicht angesprochen werden auf das Thema. Zu groß war seine innere Unruhe. Die sei heute noch da, sagt er der Volksstimme vor der Premiere, aber nicht mehr so schlimm. Nach der Premiere im Studiokino redete er viel mit dem Publikum.

Norbert Pohlmann, Geschäftsführer des Forum Gestaltung, hatte Wawerzinek zur Filmpremiere nach Magdeburg geladen. Ihm sagte der Schriftsteller auch zu, wieder in die Landeshauptstadt zu kommen und am 9. Oktober im Forum Gestaltung seinen neuen Roman „Liebestölpel“ vorzustellen. Dafür unterbricht er seinen Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom. Ab September arbeitet der Literat auf Einladung von Kulturstaatsministerin Grütters zehn Monate lang in der renommiertesten deutschen Künstlerresidenz im Ausland.

Film fertig, neues Buch auch. Nur einen Verleiher für „Lievalleen“ gibt es (noch) nicht.

Der Film „Lievalleen“ läuft im Studiokino Magdeburg am 12. und am 19. Juli 2019 jeweils um 17.30 Uhr.