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Prozessionsspiel Ein Welttheater als Revue

Das 2012 wiederentdeckte Zerbster Prozessionsspiel wird nach mehr als 500 Jahren am originären Ort wieder aufgeführt.

Von Grit Warnat 22.08.2017, 01:01

Zerbst l „Stellt euch bitte lieber im Halbkreis auf, nicht in einer Linie“, sagt Hans-Rüdiger Schwab zur Trommelgruppe der Förderschule Am Heidetor. Dann greifen die Mädchen und Jungen zu den Klöppeln. Mal kraftvoll, mal verhalten tönt ihr Schlagen von der Open-Air-Bühne weithin über den Marktplatz. Die Sonne lacht über ihren Köpfen. Schwab nickt zufrieden bei der Probe: „Sie beherrschen komplexe Rhythmen.“

Die Schüler trommeln die Auferstehung. Sie ist die 15. eines 23 Szenen umfassenden außergewöhnlichen Projektes – der Aufführung des Zerbster Prozessionsspiels von 1507. Die Stadt spricht von einem der bedeutendsten Prozessionsspiele im deutschsprachigen Raum. Die Idee, es aufzuführen, nannten einige tollkühn. Schwab, der künstlerische Leiter und Regisseur, lächelt über solche Bemerkungen. Für ihn ist die Neuinszenierung eine „schöne Herausforderung“. Seit anderthalb Jahren müht er sich ehrenamtlich um die Aufführung – wobei, das hört man im Gespräch sehr schnell heraus, das Wörtchen mühen so gar nicht passen will zu der Schwab’schen Begeisterung für dieses Projekt. Begeisterung auch, weil dieses Prozessionsspiel zu den ganz wenigen erhaltenen dieser mittelalterlichen Schriften gehört, die allesamt noch nicht aufgeführt worden sind. „Es ist ein brachliegendes Feld der Anfangszeit des deutschen Theaters“, sagt Schwab. Er findet es keineswegs zu hoch gegriffen, wenn da mancher in der Stadt meint, Zerbst schreibe Theatergeschichte.

Der Professor für Kulturpädagogik, einst Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, vergleicht das spätmittelalterliche Prozessionsspiel mit dem Jedermann, einem alten Theaterspiel, das bekannt wurde durch Hugo von Hofmannsthal. „Etwas Ähnliches versuchen wir hier.“ Statt der Prozession, so sagt Schwab, setzt er unter größtmöglicher Wahrung der originalen Strukturen auf eine Art Revue mit vielen Bildern, die sich schnell ablösen. „Wir können unmöglich zurückgehen in die Vergangenheit von vor einem halben Jahrtausend und ein christliches Stück ungebrochen aufführen“, meint er. Auch, weil die soziale Organisation der Stadtgesellschaft im damaligen Mittelalter eine ganz andere war.

In den Prozessionen zwischen 1507 und 1522 zogen die Bürger geordnet nach Zünften durch Zerbst. Schwab setzt bei der einstigen Stadtgesellschaft an und hat Analogien gesucht, die der damaligen Situation entsprechen. Er fand sie in Vereinen, Schulen, Politik, Stadtverwaltung, Kirchen, im bürgerschaftlichen Engagement. 433 Mitspielwillige aus der gesamten Flächenstadt mit ihren mehr als 50 Orten treten auf. Der Regisseur setzt ausdrücklich auf die Zerbster Bürgerschaft. Allein drei Grundschulklassen sind dabei. Generell überwältige ihn die Motivation, das große Engagement der Beteiligten. Schwab spricht von Grundrissen, die er vorgibt, die von den Mitwirkenden in ihren separaten Proben auch weiterentwickelt werden. Ein starres Gefüge will er nicht vorgeben, er setzt auf sinnliche Fantasie.

Trotz oder vielleicht gerade wegen des Laienspiels – der künstlerische Anspruch sei hoch, sagt er. Jede Szene sei anders strukturiert. Es gebe szenisches Theater, viel Musik, es werde live gesungen, auf Pantomime gesetzt – wie einst, als die Zünfte mit bis zu 2500 Mitwirkenden über den Markt zogen und die Bibelinhalte mit einfachen Mitteln bildlich darstellten. „Es war alles sehr bescheiden“, sagt Schwab zur Umsetzung. Heute setzt er auf lebendige Bilder wie in der Passionsszene, mit 18 Minuten die längste Szene mit einer Gruppenchoreografie. Bei der Todesszene, so schwebt es Schwab vor, werde das Publikum mit einbezogen. Von hinten solle ein schwarzes Tuch gezogen werden. Und dann sind auch neun Pferde im prächtigen Gefolge des Königs Salomo mit dabei. Schwab: „Ich versuche, immer wieder neue ästhetische Akzente zu setzen.“ Für den Regisseur ist es keine Zeitreise in die Vergangenheit, schon gar kein museales Projekt. Das Wort Spektakel sollte man sich ihm gegenüber verkneifen. „Es ist ein Welttheater“, sagt er. Es beginnt mit der Schöpfung und endet mit dem Tod.

Und er fügt sogleich hinzu, dass auch mit Glauben und Hoffnung dezent Fragen thematisiert werden, die jeden angehen – auch im atheistisch geprägten Sachsen-Anhalt. Die meisten der Mitwirkenden seien Atheisten, weiß der engagierte Regisseur und schmunzelt: „Der Jesus-Darsteller auch.“

Premiere ist am 8. September, zwei weitere Vorstellungen gibt es am 9. und 10. September.