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Theater Beklemmende Welt dreier Zombies

Das Stück "Vor dem Ruhestand" feierte am Sonnabend Premiere im Schauspielhaus Magdeburg.

Von Claudia Klupsch 08.10.2017, 23:01

Magdeburg l Altnazis, KZ-Schergen und SS-Verbrecher sind Jahrzehnte nach Kriegsende nahezu ausgestorben - rein physiologisch betrachtet. Ihre Ideologie lebt bis heute fort und erfährt gar eine Renaissance. Thomas Bernhards „Vor dem Ruhestand“ macht das eindringlich klar. Das Theater Magdeburg hat das Stück ins aktuelle Repertoire aufgenommen.

Vor fast 40 Jahren wurde „Vor dem Ruhestand“ uraufgeführt. Thomas Bernhard inspirierte damals die Affäre Hans Filbinger. Jener damalige baden-württembergische Ministerpräsident hatte als Nazi-Marine-Richter unrechtmäßige Todesstrafen verhängt. Karriere im Nachkriegsdeutschland war dennoch möglich.

„Vor dem Ruhestand“ legt einen bizarren Blick in die „gute Stube“ des Altnazis Rudolf Höller frei. Gut ist hier gar nichts, sondern böse, schwarz, krank. Die Magdeburger Inszenierung in der Regie von Susanne Lietzow zieht in eine beklemmende Welt dreier Zombies, des einstigen SS-Manns und seiner Schwestern Vera und Clara. Traditionell wird der Geburtstag des Reichsführers SS im Hause Höller mit Metternich-Sekt gefeiert. Heimlich, doch gar nicht still und leise. Es wird gebrüllt, gesoffen und klassische Musik gespielt.

Ausstatter Aurel Lenfert schafft es, einem doch großen Bühnenraum bedrückende Enge zu verleihen. Lieblos wirkt das Zimmer mit seinen vereinzelt stehenden Utensilien. Es ist umgeben von hohen Glaswänden. Die Assoziation zu einem Terrarium verstärkt der lange, dicke Reptilienschwanz von Vera.

Iris Albrecht spielt die längst zum Tier gewordene agile Nazi-Schwester Vera, die ihren Bruder immer schon betulich umrankte, ihn im Kellerversteck durchfütterte und seine spätere Karriere bis zum Gerichtspräsidenten begleitete. Die Schauspielerin gibt eine kalte, boshafte Frau, durchtränkt von Hass, sich selbst verbietend, die Vergangenheit zu hinterfragen. Ihr inzestuöses Verhältnis zu ihrem Bruder sieht sie gar als „rein“ an. Ausgerechnet „rein“.

Vera hat scheinbar die Zügel in der Hand. Und die Peitsche, wenn es gegen ihre querschnittsgelähmte Schwester Clara geht. Susi Wirth ist das „Opfer“, wie sie von ihren Geschwistern genannt wird, „Opfer“ eines amerikanischen „Terror-Angriffs“, eines Bombardements. Clara hasst die Nazis, denen sie ausgeliefert ist. Susi Wirth zeigt im Rollstuhl ein Bild der Anklage, mit bebender Stimme, regungslos, blutleer, beobachtend. Sie beherrscht das Spiel ohne Worte. Mitunter windet sie sich unter Ekel, sackt zusammen, würgt. Doch starr und blass dem Nazi-Treiben zuzuschauen, erzielt Wirkung genug. In ihrem Gesang der Gequälten sind vertraute Lieder unkenntlich gemacht und gehen unter die Haut.

Thomas Schneider lässt den Biedermann schnell hinter den SS-Mann und einstigen stellvertretenden Lagerkommandanten treten. Hass gegen Juden, Amerikaner und Opportunisten sind des Nazis Lebenselixier. „In jedem von uns ist der Verbrecher, man muss ihn nur rufen“, sagt er und brüllt von „Pflichterfüllung“. Die Figur, ohnehin komisch und abstoßend zugleich, entblößt sich – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein splitterfasernackter Schneider – klein mit Plauze stolziert auf der Bühne, baut sich bedrohlich auf, brüllt, betrachtet das Bild Himmlers. Die Regisseurin setzt mit solchen Einfällen dem subtilen Humor des Bernhardschen Textes noch eins drauf.

Die Schlussszene an der Festtafel macht aus Bernhards „Komödie“ endgültig eine Groteske. Die SS-Uniform hat schwarze Flügel. Der Nazi blättert mit Vera im Familienalbum. Mord an ungarischen Juden und Kriegsverbrechen in Polen kommentieren sie wie selbstverständliche Ereignisse. Clara würgt. Schwarzes Pech ergießt sich an Wand und Boden. „Irgendwas zieht sich zusammen, ganz in unserem Sinne. Es wird nicht lange dauern, bis wir offen bekennen, wer wir sind“, sind Worte im Text, vor 40 Jahren vielleicht nur Wunsch-Wahn der Bernhardschen Figur, heute allerdings wirken sie gespenstisch bedrohlich. „Nazi-Sprache“ ist wieder offen zu hören, erschreckend erkennt man sie auch aus den Höller-Sätzen. Zu hoffen ist, dass die bisher schweigende Mehrheit nicht gelähmt und angeekelt sitzen bleibt, sondern aufsteht und Nazis in die Gruft zurückschickt.

Das Premierenpublikum applaudierte lange für eine ideenreiche, wirkungsvolle Inszenierung mit drei grandios agierenden Schauspielern.