"Wer hat Angst vor Virginia Woolf" auf der Studiobühne des Anhaltischen Theaters Dessau Turbulente Szenen einer Rosenkrieg-Ehe
Gut eineinhalb extrem turbulente Stunden erleben die Theaterbesucher auf der Studiobühne des Anhaltischen Theaters Dessau. Niklas Ritter hat Edward Albees Schauspiel "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" inszeniert.
Dessau-Roßlau l Ist das etwa eine Bar? Die große Anzahl verschiedener Spirituosenflaschen, noch mehr - zunächst jedenfalls - leerer Gläser auf einem überlangen Tresen, ließe es erahnen. Die beiden sichtlich schon alkoholgeschwängerten Rokoko-Gekleideten, sich mühsam gegenseitig stützend, wohl doch mehr behindernd, könnten versackte Gäste sein. Alles falsch!
Es ist das Wohnzimmer des Geschichtsprofessors George und seiner Frau Martha, der Tochter des Unidekans (Ausstattung Bernd Schneider). Sie kommen von einer Party. Es ist nachts gegen zwei Uhr. Hier werden sie selbst und vor allem die Theatergäste gut eineinhalb extrem turbulente Stunden erleben. Im Alten Theater auf der Studiobühne des Anhaltischen Theaters Dessau läuft in der Regie von Niklas Ritter das Schauspiel "Wer hat Angst vor Virginia Woolf" von Edward Albee.
Und geht zur Sache. Seit 20 Jahren verheiratet, zelebrieren die beiden, über die Zeit offensichtlich immer mehr ausgefeilt und inszeniert, ein wahres Scharmützel der Gefühle, gespickt von zutiefst verletzenden Aggressionen - Hassliebe pur. Anne Lebinsky und Julian Mehne treffen die Befindlichkeiten punktgenau.
Dem Zuschauer stockt der Atem über die ganz unzweideutig wie scheinbar beiläufig hingesagten "Nettigkeiten". Ebenso über die hinaus gebrüllten, nicht minder boshaften und zutiefst beleidigenden Ausbrüche. Und - beide nehmen sich nichts. Marthas Austeilen trifft auf Georges nur scheinbar lässiges Kontern. Doch neben dem Erschrecken der Zuschauer lässt Niklas Ritter durchaus ebenso schmunzelnde Erheiterung und prallen Humor zu. Voyeurismus ist eben doch unterhaltsam: Mal schauen, was und wie es andere machen.
Sehen die Zuschauer ein Spiel nach Regeln?! Wie jeden Tag?!
Mimisch, gestisch und sprachlich brillant bis in feinste Details leben Lebinsky und Mehne die Charaktere aus, die von in Übermaß getrunkenem Alkohol hemmungsloser werden, ihre Eitelkeiten und Lebenslügen offenbaren.
Da gibt es eine Abwechslung. Martha lädt den jungen Biologieprofessor Nick (Peter Wagner) und dessen junge unbedarfte Ehefrau Honey (Katja Sieder) ein. Auf Wunsch ihres Vaters: "Papa hat es gesagt!"
Wer denkt, dass es nun der Gäste wegen gesitteter zugeht, hat sich geirrt. Nick und Honey werden allmählich von Beobachtenden mehr und mehr zu Mitakteuren, werden hineingezogen, angesteckt vom sich Offenbaren. Der Zuschauer erfährt durch Nick von einer Scheinschwangerschaft, die möglicherweise zur überstürzten Heirat führte.
Katja Sieders Honey irrt scheinbar nur umher, bekommt nicht allzuviel mit, mehr jedoch vom Alkohol - mit Brechfolgen. Peter Wagners Nick greift sich zwar tatkräftig Martha, hätte sonst etwas mehr Profil haben können. Eine zentrale Enthüllung ist die von Martha und George lange als Geheimnis gehütete Geschichte ihres gemeinsamens Sohnes - die sich allerdings als gemeinsame Erfindung offenbart.
Im Verlauf des Stückes kommt der Zuschauer ohnehin hin und wieder ins Grübeln, ob die eine oder andere Geschichte wahr oder falsch ist. Das Abstruse der Gesamthandlung wird mit Slapstick-Einlagen, wüsten Tanzsequenzen gewürzt.
Niklas Ritters Inszenierung atmet die Brisanz des Stückes, die seit seiner Uraufführung 1962 in New York nicht verloren gegangen ist.
Martha und George gehen ins Bett. Nick und Honey sitzen auf der Couch. Ein Neuanfang? Oder beginnt eine neue alte Geschichte? Der Zuschauer hat die Wahl. Das Schauspieler-Quartett bekam auch in der zweiten Vorstellung viel ehrlich verdienten Beifall.